Merle grölt los. „Immerhin das unterscheidet euch gründlich. Vielleicht kann er dir Lesen beibringen, frag ihn doch mal“, geiert sie, „dann kannst du dir auch mal ein richtiges Buch kaufen, eins ohne Bilder!“
Seit sie das erste Mal vor meinem Bücherregal gestanden und die Comicsammlung gesehen hat, macht sie sich darüber lustig, dass ich angeblich mit mehr als zwanzig Worten auf einer Seite überfordert bin. Ich sage nichts zu meiner Verteidigung, denn das führt üblicherweise nur dazu, dass schließlich alle meine schlechten Eigenschaften aufzählen.
Außerdem geht jetzt die Tür auf und Miloš kommt rein. Er nimmt seinen Bass vom Haken und knurrt uns an: „Fragt mich nicht, was los ist!“
Seine Stimmung sieht aus wie die nächste Eiszeit. Wenn das eine Folge seines Katers ist, muss es sich um ein ganzes Rudel bösartiger Löwenkater handeln. Ich verkneife mir mal lieber die Kommentare. Die Mädels stehen aus der Sofaecke auf und werden angeschnauzt: „Geht das vielleicht ein bisschen schneller? Ich bin zum Musikmachen gekommen!“
Heute gelingt uns nicht einmal das einfachste Lied. Miloš ist ständig schneller als wir oder verspielt sich. Ausgerechnet Miloš, der sonst das Uhrwerk dieser Band ist, der alle Texte, Melodien und Taktfolgen auswendig weiß, und der immer Gelassenheit ausstrahlt, außer er hat gerade gute Laune!
Lisanne fasst sich ein Herz. „Was ist denn los? Können wir dir vielleicht helfen?“
„Nein“, faucht er.
„Ist was mit deinem Vater?“
Miloš sagt nichts, sieht aber noch finsterer aus.
Merle hat jetzt auch eine Idee: „Habt ihr gestritten?“
„Versteht ihr meine Sprache nicht!?“, schreit er die beiden an.
„Sei doch nicht gleich so unfreundlich!“, beschwert sie sich.
Ihm knallt die Sicherung durch. „Ich bin nicht unfreundlich! Ich habe gesagt, ich will nicht darüber reden!!“
Ich schiebe ihn beiseite. „Okay, hübscher Versuch, aber heute gibt es keine Probe. Können wir vielleicht Dienstag eine Stunde eher anfangen?“
„Vergiss es“, sagt Lisanne. „Früher schaffe ich nicht.“
„Ist das noch so, dass du Mittwochs erst um zehn anfängst?“, fällt Merle ein und weil sie nickt, fragt sie weiter: „Können wir die Stunde dann hinten dran hängen?“
Lisanne und ich sind einverstanden und die beiden verlassen den Proberaum.
Ich hebe prüfend die Thermoskanne hoch, sie ist leer. Also setze ich neuen Kaffee auf.
Miloš hat die ganze Zeit am Fenster gestanden und schweigend raus geguckt. Jetzt fährt er mich an: „Und du? Eigentlich willst du doch auch nur wissen, was los ist, oder? Hau ab, verdammt!“
Natürlich hat er recht. Aber er muss es loswerden. Der Zorn qualmt ihm förmlich aus den Ohren. Aber ich darf ihn nicht drum bitten. Ich sage nichts.
Offenbar war das mal wieder genau richtig, denn nach ein paar stillen Minuten legt er los:„Mein Vater ist noch keine vierundzwanzig Stunden bei uns, da fängt er schon an, mich fertig zu machen. Alles, was ich gemacht habe, ist falsch. Ich bin ein Vaterlandsverräter und wie ich mich bloß traue, ihm vor die Augen zu treten, zu feige, um in die Armee zu kommen und zu feige, im Land zu bleiben und zu feige, wenigstens eine Adresse zu hinterlassen!“ Er dreht sich zu mir um. „Was hab ich falsch gemacht? Ich wollte meine Mutter retten! Sie wollte nicht mehr in Peckovar bleiben, wo sie jeden Tag Angst um ihr Leben gehabt hat! Wegen ihr hab ich mein ganzes Leben umgeworfen, ich wollte nicht da weg, das war meine Heimat!“
Ich sage nichts. Was soll ich schon dazu sagen?
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