9. November 2015

217

Sie sieht aus wie immer, und das heißt: ziemlich toll. Ihr langes dunkelbraunes Haar trägt sie offen, ein bisschen wohldosierte Schminke bringen ihr hübsches Gesicht und die mandelförmigen Augen noch besser zur Geltung. Sie hat ein weinrotes Top an und eine weite khakifarbene Cargohose, in der man aber nichts verstauen könnte, weil sie schon knapp oberhalb des Knies zu Ende ist. Aus den Hosenbeinen schauen gebräunte, schlanke Beine hervor. Vermutlich trägt Helena zum Top passende weinrote Stoffschuhe, aber davon sehe ich nichts. Es würde jedoch gut zu ihr stehen.
Von meinem Warteposten aus habe ich einen guten Blick auf ihr erstauntes Gesicht, als sie Pieter und Cokko erkennt. Sie fragt die beiden etwas, das im Getümmel der heißen Schlacht am (überwiegend) kalten Buffet untergeht, aber es geht wohl um mich, denn Cokko zeigt zu mir nach draußen.
Sie kommt mit ihrem Frühstück(101) heraus, obwohl drinnen mehr Platz ist. Suchend schaut sie sich nach einem Stuhl um, den sie dann an den Tisch schieben könnte, an dem ich auf der alten Gartenbank sitze. Freie Stühle sind jedoch Mangelware an einem schönen Sommermorgen in Tante Os Garten – vor allem, wenn man erst so spät kommt. Ich rücke ein Stück beiseite, damit sie auch auf der Bank sitzen kann. Es ist ziemlich eng, aber das macht mir nichts. Seit letztem Jahr ist viel Zeit vergangen.
„Na?“, erkundigt sie sich, „Wie geht’s dir?“
„Prima“, sage ich, was fast eine Untertreibung ist. „Und selber?“
Prüfend guckt sie mich an. „Wenn du so bist, wie du früher warst, kriegst du es sowieso raus. Also, mir geht’s nicht gut.“
Das klingt, als wäre ich „früher“ Hellseher gewesen! Mitten auf dem Tisch stehen Tassen und ein paar Thermoskannen. Ich nehme eine Tasse und gieße ihr einen Kaffee ein. Automatisch gebe ich Milch und Zucker hinzu, ich muss gar nicht darüber nachdenken. Ein Jahr ist nun doch nicht so viel Zeit.
Nach einem überraschten „Danke“ trinkt sie. „Ieuwkje hat gesagt, dass du oft hier bist“, sagt sie dann und beginnt zu essen.
„Das stimmt. Ungefähr so oft wie früher, als wir noch zusammen gekommen sind.“
„Ich bin total lange nicht hier gewesen. Ich wollte eigentlich zu Silvester kommen, aber … da ist was dazwischen gekommen.“ Sie schluckt, und das liegt nicht an ihrem Frühstück.
Ich werfe einen Blick in die Küche und stelle fest, dass ich sie jetzt ohne gesundheitliche Risiken (zum Beispiel plattgetretene Füße) betreten kann. „Warte mal eben. Und halt meinen Platz frei“, weise ich Helena an und schlängele mich aus der Bank, um mir meine tägliche Müsliration abzuholen.
Ich spüre, wie sie mich mustert, als ich zurück komme. Auch als ich mit essen anfange, schaut sie mich immer wieder an.
Schließlich, als sie mit ihrer Mahlzeit fertig ist, offenbart sie: „Ich hätte nicht gedacht, dass dir kurze Haare so gut stehen.“
„Danke.“ Nein, ich werde ihr nicht sagen, wie es dazu kam.
„Hat dein Bruder dir eigentlich gesagt, dass ich dich mal fast besucht hätte?“
„Du? Mich fast besucht?“, papageie ich, „Davon hat er nichts gesagt. Wann war das denn? Und du machst doch sonst keine halben Sachen, warum wolltest du mich fast besuchen?“
Sie lächelt. „Nein, ich wollte dich sogar ganz besuchen, das war, als du den Ellbogen gebrochen hattest. Ich hatte irgendwo davon gehört und es tat mir total leid. Ich bin bis vors Haus gekommen und habe da deinen Bruder getroffen. Erst wollte ich schon auf ihn zugehen, weil ich euch verwechselt habe. Mein Unterbewusstsein hatte sich anscheinend noch nicht daran gewöhnt, dass du jetzt ganz anders aussiehst. Aber es war natürlich gut, dass ihr euch ähnelt, denn sonst wäre ich an ihm vorbei gelaufen und er hätte mich nicht davon abgehalten, dich zu besuchen.“
„Davon hat er mir nie erzählt“, wundere ich mich.
„Er sagte übrigens, dass es politisch unklug wäre, dich zu besuchen, und ich habe bis heute nicht begriffen, was er damit gemeint hat.“
„Wahrscheinlich war das, als ich nicht so gesellschaftsfähig drauf gewesen bin. Acht Wochen können sich ganz schön hinziehen, wenn auf einmal kein Hobby mehr funktioniert.“

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