Als wir später mit den Rädern unterwegs sind und ich versuche, Miloš die Insel trotz der Touristenscharen zu zeigen, kommt er noch einmal auf das Thema zurück. „Was meinte sie vorhin damit, „es ist so, wir sind Friesen?“ Das ist keine besonders gute Erklärung.“
Stimmt, denke ich, es ist keine gute Erklärung, aber ein überaus typisches Beispiel für eine sehr seltsame Kommunikationsform, die ich bisher nur auf der Insel angetroffen habe. Tante Os Aussage kann alles und nichts heißen. Für sie heißt es wahrscheinlich eher alles als nichts.
„Das hat mit der friesischen Identität zu tun. Vermutlich können wir Holländer froh sein, dass die Friesen damals bei den Sieben Provinzen–“
„Moment“, unterbricht er. „Wer sind auf einmal wir Holländer?“
„Wir Holländer sind die Niederländer, die aus Holland kommen. Solche wie ich. Holland ist die politisch wichtigste Provinz, die Hauptstadt ist dort und der Regierungssitz. Deswegen wird „holländisch“ oft synonym verwendet, vor allem in Deutschland.“
Er nickt. „Erklär bitte weiter, warum wir Holländer froh sein können, dass die Friesen bei den Sieben Provinzen … was wollten?“
„Dass sie mitgemacht haben, sonst sähe das Land heute anders aus. Sie hätten sich mit den Friesen in Deutschland zusammen tun und ihr eigenes Königreich gründen können … wer weiß, ob sie das nicht eines Tages noch tun. Die Friesen sind schon ein ganz spezielles Volk.“
„Warum gibt es in Deutschland auch Friesen? Wurden sie vertrieben und sind nicht zurück gekommen?“
„Nein. Sie waren schon da, bevor die heutigen Grenzen gezogen wurden. Friesen gibt es entlang der gesamten Nordseeküste, bis rauf nach Dänemark. Das Wort „Friesen“ kommt übrigens von „die freien Söhne“. Sie haben sich angeblich nie einem Eroberer unterworfen, worauf sie bis heute stolz sind. Aber zu solchen Dingen befragst du besser Tante O. Oder Ferdinand. Die sind schließlich selber Friesen und erzählen dir keine Halbwahrheiten.“
Mittags habe ich ihn überzeugt, später im Jahr noch mal mit mir nach Dersummeroog zu kommen, weil es dann gemütlicher zugeht und man einfach mehr sieht von dem, was die Insel ausmacht. Wir stellen die Fahrräder in der Pension ab und fahren mit dem Bus zum Fährterminal in West, um Pieter und Cokko abzuholen.
Ich habe meinen Bruder seit vier Wochen nicht gesehen, denn an unserem eigentlichen Besuchswochenende hat sein Chef ihn nicht gehen lassen, daraufhin hat er gekündigt und am nächsten Samstag hatte er das Probearbeiten an der neuen Stelle.
„Hi Cokko“, begrüße ich ihn und nehme ihn in den Arm, aber nicht so lange wie es meiner Herzensverfassung gefallen würde. Vor Pieter und Miloš verkneife ich mir das.
„Geht’s dir gut?“, will er wissen und schaut mich prüfend an.
Ich nicke. „Immerhin bin ich ja hier. Auch wenn die Insel schrecklich voll ist.“
„Das dachte ich mir schon. Na ja, um ein einsames Fleckchen zu haben, solltest du vielleicht mal Urlaub in den Rocky Mountains machen. Da ist einfach mehr Platz als hier. Und das mit der Flugangst kriegen wir schon hin, autogenes Training oder Hypnose oder so, du wirst schon sehen.“
„Hm-hm“, mache ich, „Aber nur, wenn du mitkommst.“
Jetzt lacht er sein unnachahmliches Cokko-Lachen. „Ganz so einsam sollte das Fleckchen dann doch nicht sein, he?“
Miloš unterbricht uns: „Na, wie ist der neue Chef?“
„Der Chef ist eine Chefin“, fängt er an und Miloš pfeift durch die Zähne, „Aha! Erzähl mir mehr von ihr! Wie alt, wie sieht sie aus, fängst du was mit ihr an?“
„Ich würde dir mehr erzählen, wenn du mich lassen würdest. Die Chefin ist über sechzig und hat den Laden von ihrem Neffen gekauft. Der war pleite gegangen. Zuerst hat er noch weiter da gearbeitet, aber dann ist es ihm zu blöd geworden, sagt sie zumindest, und hat sich was anderes gesucht. Deswegen darf ich jetzt an seinem Arbeitstisch sitzen und den Kunden erklären, was an ihren Computern kaputt ist. Man glaubt nicht, welche haarsträubenden Geschichten die Leute einem auftischen nur um nicht zugeben zu müssen, dass sie die einfachsten Bedienerhinweise offensichtlich nicht gelesen haben. Möchten Sie die Festplatte formatieren? Keine Ahnung, aber ich klicke mal ‚Ja’ an … und so. Aber es ist lustig.“
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