9. November 2015

213

„Ich habe nicht auf die Uhr geguckt.“
„Und was haben Sie die ganze Zeit gemacht?“, fragt jetzt Tante O.
„Ich war am Strand und bin mein tägliches Ründchen gelaufen.“
Tägliches Ründchen? „Zehn oder fünfzehn Kilometer?“
Grinsend winkt er ab. „Heute nur fünf.“
„Aber es hat doch so geschüttet!“
„Nasser als bis auf die Haut bin ich noch nie geworden. Ich habe meine Sachen ausgewaschen und über der Badewanne aufgehängt, geht das?“
„Natürlich. Haben Sie sie vorher in die Wäscheschleuder getan?“
„Nein.“
„Jeremy, sei so lieb, zeig ihm gleich, wie das geht, ja?“
„Mach ich.“
„Und nimm auch eine alte Zeitung mit, um die Schuhe auszustopfen, unter der Treppe liegt noch einiges.“
„Danke.“ Er beginnt zu essen und ich angele mir einen Teil der „Eilanden-Nieuws“.

„Ich hab früher auch Sport gemacht“, verkündet der Herr des Hauses in die Stille.
Ich definiere diese Sportart genauer: „Du hast Briefe verteilt.“
„Na ja, glaubst du, ich hätte ein Auto gehabt wie die Postboten heute? Nein, ich bin Fahrrad gefahren, bei jedem Wetter, kreuz und quer über die Insel und vierzehn Jahre lang in und um Harlingen.“
„Spiel dich jetzt aber bitte nicht auf, als hättest du bei der Flandernrundfahrt teilgenommen oder so“, macht Tante O gutmütig.
Ferdinand fasst ihre Hand und drückt ihr einen Kuss auf die Finger. Dann steht er auf und geht nach draußen, wo der Regen aufgehört hat und der Wind die Wolken zerrupft. Er kippt die Gartenmöbel an, damit die Pfützen ablaufen. Mit einem Lappen wischt er den Tisch und die anderen Flächen ab. Die Spätaufsteher können gleich auf der Terrasse essen.
Tante O legt die Tageszeitung zusammen und schiebt sie in unsere Reichweite.
Während ich meinen Tee trinke, blättert er die Seiten durch und stutzt auf einmal. „Was ist das für eine Sprache?“, beschwert er sich, als wäre es an mir gewesen ihn zu warnen.
Ich muss gar nicht hingucken. „Friesisch.“
„Friesisch?“, wiederholt er ratlos. „Was ist das?“
„Unser schönes Land hat zwölf Provinzen … wie früher deine jugoslawischen Teilrepubliken. Zuyderkerk ist in Nordholland, aber gerade befindest du dich in Friesland. Flächenmäßig eine der größeren, was die Einwohnerzahl betrifft, eine der kleinsten.“
„Und die haben alle eine eigene Sprache? Ich dachte, alle reden niederländisch?“
„Hat Godfried noch nicht mit dir darüber gesprochen?“
„Nein. Ich dachte, das Durcheinander mit den vielen Sprachen hätte ich endlich hinter mir gelassen.“
„Na ja, es gibt nur eine Amtssprache. Niederländisch. Aber jede Region hat ihren Dialekt. Wenn sich zwei Limburger unterhalten, verstehe ich kein Wort, aber jeder lernt in der Schule Niederländisch.“
„Aha. Und was steht hier? Kannst du das lesen?“
Ich nehme mir den friesischen Teil der Zeitung vor und arbeite mich durch den ersten Absatz. „Es ist eine Geschichte über einen Pastor aus Ballum auf Ameland, der in Südafrika eine Gesundheitsstation aufgebaut hat. Also, ich kann das lesen, aber es dauert ziemlich lange.“
Tante O hat in der Zwischenzeit die Platten mit Wurst und Käse, die Marmeladenschälchen, die Thermoskannen mit Kaffee und Heißwasser und die Brotkörbe für die anderen Gäste vorbereitet und sagt nun: „Was du über die Sprachen sagst, stimmt nur zum Teil. Hier in Friesland ist Friesisch auch Amtssprache. Das ist in keiner anderen Provinz so.“
„Und woran liegt das?“, will Miloš wissen.
Sie hebt die Schultern. „Es ist so. Wir sind Friesen.“

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