9. November 2015

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„Richtig. Und wo sind die?“
„Wie soll ich das jetzt wissen?“, fragt er ratlos zurück. „Zuhause kann ich dir das sagen, denn die Grote Kerk ist genau im Osten von meinem Fenster. Da geht die Sonne auf. Aber wie soll ich dir sagen, wo Osten ist, wenn ich keinen Kirchturm habe?“
„Dann vergiss Osten und zeig mir, wo ungefähr jetzt Süden sein könnte.“(99)
„Wenn links von uns Osten ist, ist Süden vor uns. Wie soll ich Süden finden, wenn ich nicht weiß, wo Osten ist?“
Uhrzeit? Sonnenstand? Aber ich lenke ein. „Eine andere Frage: Warum kann es nicht sein, dass Osten links von uns ist? Streng deinen Kopf ein bisschen an, dann kriegst du das raus.“
Miloš denkt tatsächlich einen Moment nach, ich kann fast hören, wie es in seinem Hirn rattert. „Weil Zuyderkerk westlich vom IJsselmeer ist und wir nicht nach Amsterdam fahren wollen, sondern nach Dersummeroog. Und das ist im Norden vom IJsselmeer.“
„Genau. Wo wäre Osten, wenn die Kaap Hoorn genordet auf einer Seekarte stehen würde?“ Die Erklärung für das Fremdwort liefere ich gleich mit: „Genordet heißt, dass sie nach Norden ausgerichtet ist. Bei den meisten Karten ist Norden oben.“
Miloš zeigt nach rechts.
„Also steuerbord“, werfe ich die nächste Vokabel in den Ring. „Steuerbord ist das, was die Landratten rechts nennen und backbord ist links. Steuerbord hast du die grüne Lampe, backbord ist sie rot. Merk dir das, es kommt immer wieder vor.“
„Rechts, grün, steuerbord“, wiederholt er murmelnd. „Links, rot, backbord.“ Nun steht er auf, geht einen Schritt vor und dreht sich zu mir um. „Jetzt ist für mich alles seitenverkehrt. Backbord müsste da sein“, er zeigt nach rechts, „Hast du dafür auch eine Regel?“
Jaja, die Frage kommt immer. Ich fasse seine rechte Hand. „Welche Hand halte ich fest?“
„Die rechte.“
„Dreh dich um.“
Er tut es und ich frage erneut: „Welche Hand halte ich fest?“
„Immer noch die rechte.“
„Siehst du. Warum sollte backbord auf einmal steuerbord sein, bloß weil du dich umdrehst? Wenn du rückwärts im Heck stehst, ist das ja auch nicht auf einmal der Bug.“
„Aha. Heck ist hinten?“ Weil ich nicke, folgert er korrekt: „Und dann ist Bug vorne. Ich werde das alles lernen. Frag mich morgen danach. Darf ich jetzt segeln?“
Wind und Wellen benehmen sich anfängerfreundlich, man kann es wagen. Ich überlasse ihm das Ruder und kann mich anschließend an einem Kerl erfreuen, der glücklich grinst wie ein kleiner Junge.
Die Lorentzsluis durchfahre ich eigenhändig. Schleusen sind (genau wie beim Auto rückwärts einparken) nichts, was in der ersten Fahrstunde vorkommt. Und weil Ebbe ist, wird mein Aushilfssteuermann im Watt wieder reiner Passagier. Aber das macht ihm nichts aus, denn ich habe ihm zugesichert, dass er auf dem Heimweg wieder im IJsselmeer segeln darf, wenn das Wetter es zulässt.

In Zuyderkerk hat Pieter mir sein altes Handy aufgezwungen, damit ich Ieuwkje anrufe, wenn wir die Insel erreichen. Er hat mir alles genau erklärt, aber leider habe ich wieder vergessen, welche Knöpfchen in welcher Reihenfolge zu drücken sind, sodass jetzt natürlich nichts funktioniert. Ich finde nicht einmal das Telefonbuch wieder, in dem nur die Nummern von Ieuwkje und Pieter abgespeichert sind, weil ich ja sonst keine brauche.
Glücklicherweise kennt Miloš sich besser mit solchen Geräten aus (er besaß selber mal eins, als er noch etwas mehr Geld hatte als jetzt) und gibt es mir wieder, als Ieuwkje schon am anderen Ende der Leitung wartet.
Kurze Zeit später kommt sie zum Hafen. Ich mache die beiden miteinander bekannt und stelle fest, dass Miloš sie wie einen unerwartet gefundenen Goldschatz anschaut. Oh je, das wird kein schönes Ende nehmen … Hatte ich ihm nicht erzählt, dass sie vergeben ist?

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