Wir segeln eine Weile so dahin, bis mir noch etwas einfällt: „Wo ist dein Vater jetzt?“
Er zuckt die Schultern. „In Banja Luka haben wir ein paar Mal Freunde getroffen, die ihn gesehen haben oder Leute aus seiner Einheit, aber alle sagten was anderes. Keiner weiß, wo er ist. Vielleicht ist er tot, vielleicht ist er untergetaucht, weil er zu viele Kinder erschossen und Frauen vergewaltigt hat. Ich weiß nicht, was ich glauben soll.“
„Das klingt ja nicht so lustig“, sage ich, was ich denke.
Miloš brummt bejahend. „Ich hätte nach ihm suchen können. Ich hätte sogar nach Peckovar fahren können, vielleicht lebt er wieder da und vielleicht hat er eine neue Familie angefangen. Ich weiß ja nicht, ob er weiß, dass wir noch leben. Und wo wir sind. Das wäre einfach zu lösen, aber schwierig ist, dass ich nicht weiß, ob ich will, dass er das alles weiß. Und dann hierher kommt. Auf der einen Seite könnte ich endlich mein Leben ohne meine Mutter machen. Auf der anderen Seite ist es vielleicht ganz gut, wenn er bleibt, wo er ist. Er hat bestimmt viele Sachen gesehen und getan, die nicht hier hin passen. Mein Vater hat viel mehr erlebt vom Krieg, ich weiß nicht, ob er dann einfach hier leben kann, wo seit sechzig Jahren Frieden ist und fast niemand mehr an den letzten Krieg denkt.“
Noch eine Frage kommt mir in den Sinn: „Magst du ihn?“ Bis jetzt hat er eher neutral über ihn gesprochen.
„Wen, meinen Vater?“, fragt er nach, als wäre es abwegig, so etwas zu denken.
Ich nicke.
Es scheint keine leichte Frage zu sein, denn er lässt sich viel Zeit mit der Antwort. Irgendwann sagt er: „Was ist mit deinem Vater? Wir reden hier über meinen Vater … deinen habe ich auch noch nie gesehen.“
Du lenkst ab. „Doch, hast du. Er ist bei einigen Auftritten der Jesus-Pop-Band gewesen. Er wohnt in Alkmaar mit Marjorie und dem kleinen ABC, das sind meine Halbbrüder. Die hast du auch alle schon gesehen. Übrigens wolltest du mir erzählen, ob du deinen Vater magst.“
Miloš grinst über mein Manöver. „Na ja, als Kind … als Kind magst du deinen Vater. Du willst werden wie er, wenn du groß bist. Aber“, das Grinsen verschwindet wie ausgeknipst. „Nein. Nein, ich mag ihn nicht. Und ich will auch nicht, dass er hier hin kommt. Ich will ihn nie wieder sehen.“
Das ist eine harte Ansage. „Woran liegt das?“
„Ein Beispiel: Ich hatte die Schule fast fertig und wollte in Belgrad das Abitur machen, um dann zu studieren. Ich hätte das auch zuhause machen können und dann in Banja Luka studieren, aber ich wollte ein bisschen weiter weg. Von uns nach Banja Luka sind es ungefähr fünfzig Kilometer, nach Belgrad zweihundertfünfzig. Ein Freund wäre mitgekommen, der auch studieren wollte, ich wäre nicht alleine gewesen. Wir sind nach Belgrad gefahren, um ein Zimmer zu mieten und uns an dem Gymnasium umzusehen, damit wir uns nach den Schulferien auskennen. Als ich wieder zuhause war, sagte mein Vater: Du gehst morgen zu Onkel Gojko und fängst die Lehre an. Ich hatte ihm vorher gesagt, was mein Freund und ich vorhatten. Er wusste das, aber es hat ihn überhaupt nicht interessiert. Er hatte beschlossen, ich sollte Automechaniker werden, also wurde ich es.“
„Bist du Automechaniker? Ich dachte, du hättest keinen Beruf.“
„Habe ich auch nicht. Der Krieg kam dazwischen.“
Diese Katastrophe geht mir furchtbar auf die Nerven. Sämtliche Staaten des ehemaligen Jugoslawiens sind in die Steinzeit zurück verfallen, bloß weil Menschen plötzlich dazu angeheizt wurden, ihre Nachbarn zu erschlagen.
„Was wolltest du denn studieren?“
Jetzt schaut er mich an und sein Grinsen ist wieder da. „Rate – was wollte ich studieren?“
Oh, denke ich. Das ist kompliziert. In Prinzip kommt alles in Frage, von Philosophie bis Luft- und Raumfahrttechnik. „Wie viele Versuche hab ich?“
Er grinst noch mehr. „Drei.“
„Versuch eins: Sportwissenschaftler“, stürze ich mich in das Abenteuer. Schließlich macht er gerne Sport!
„Falsch.“
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