Während der Rückfahrt überkommt mich vom ganzen Stillsitzen und Langweilen und Wegsehnen eine derartige Müdigkeit, dass ich Miloš erst ein paar Mal angähne und mich dann in meine Ecke verkrieche, die Augen zu mache und kurz darauf eingeschlafen bin.
Vor dem Bahnhof Hoorn, in dem wir umsteigen müssen, weckt er mich, aber er hat nicht viel davon, dass ich jetzt wach neben ihm sitze, denn mir fällt nicht mehr als „Hm“ ein, wenn er was zu mir sagt.
In Zuyderkerk angekommen holen wir unsere Fahrräder, und das Stück Straße, bis sich unsere Wege trennen, radeln wir nebeneinander her.
An der Straßenecke, wo ich links abbiege und er weiter geradeaus muss, fällt mir endlich mal was Nettes ein. „Hast du Bock, gleich eine Runde mit segeln zu gehen?“, frage ich.
„Klar. Wann fährst du los?“
„Ich esse zuhause was und dann geht’s direkt los, dachte ich.“
Miloš nickt. „Klingt gut. Also am Pier in einer halben Stunde ungefähr … oder wann?“
Mir fällt noch etwas Nettes ein. „Komm mit zum Essen.“
„Klingt auch gut“, freut er sich und so fahren wir zusammen weiter.
Wie gut, dass wir nur bis 16 Uhr in dieser meines Erachtens völlig bildungsfreien Fortbildung sitzen mussten! Der Rest des Tages entschädigt mich leicht für die drögen Stunden in Amsterdam. Das IJsselmeer zeigt sich von einer ausgesprochen hübschen Seite und der Wind trägt uns rasch vom Festland weg.
Verzückt schaue ich nach oben.
Ach, dieser Himmel!
Er ist so hoch und so weit und wo Luft und Wasser ineinander fließen, scheint er fast unendlich zu sein. Blau und grün schimmert das Meer, überzogen von einem Netz silbern glitzernder Wellen – jede Minute neu, jede Sekunde anders. Das liegt am Licht, und das wechselt ständig vor unserem schönen Himmel, der keinen Horizont kennt. Gerade hat der Wind noch dicke Wolken vor sich hergetrieben und sie zu einem gewaltigen Gebirge zusammengeballt, da kommt schon wieder die Sonne durch, spreizt ihren Strahlenfächer über dem Wasser, dass das Meer aufleuchtet wie auf einem Gemälde Jan Vermeers.
Vor einigen Jahren bin ich mit Helena, Marjorie und Gerrit in der Alkmaarder Gemäldegalerie gewesen, da hatten sie eine Sammlung von Seeansichten aus dem 17. Jahrhundert ausgestellt. Gerrit hat mich gefragt, warum ich junger Kerl auf solche alten Schinken stehe.
Ganz ehrlich, wie soll ich ihm verständlich machen, was ich an den Bildern finde, wenn er nicht mal versteht, warum ich so gerne segeln gehe?
Inmitten dieser allumfassenden maritimen Idylle wundert es mich ziemlich, dass Miloš irgendwann aus wortwörtlich heiterem Himmel sagt: „Manchmal bin ich echt neidisch.“
„Auf wen? Und warum?“, wünsche ich zu erfahren.
„Weil hier alles so schön ist. Hier sind alle ohne Krieg aufgewachsen, außer die alten Leute. Manchmal denke ich, warum können nicht alle hier aufwachsen? Warum musste mir das passieren, dass ich den Krieg erlebt habe? Warum bin ich nicht woanders zur Welt gekommen?“
Das sind schwierige Fragen, auf die ich leider keine Antwort weiß. Ich muss gestehen, dass ich darüber noch nie nachgedacht habe. Dankeschön, Gott, denke ich verlegen, dass ich in Frieden aufwachsen konnte.
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