30. August 2015

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Man kriegt nicht viel Geld vom Arbeitsamt, wie ich von Pieter und einigen unserer Eltern weiß, aber gar keins – das ist schlimm. Natürlich zahlt der Staat die Wohnung und Sozialhilfe für Frau Kusturica. Aber das reicht ja kaum für eine Person, geschweige denn für zwei. „Seit wann lebst du am Existenzminimum und ich merke nichts davon?“
Unwillig winkt er ab.
„Sag es bitte.“
Er guckt mich nicht an, als er die Worte hinwirft: „Willst du mir auch sagen, dass ich betteln gehen soll?“
„Nein“, sage ich leise. „Ich will mich schämen. Weil ich nicht gemerkt habe, dass es dir schlecht geht.“
Immer noch ohne mich anzugucken sagt er schließlich: „Seit Dezember.“
Alles passt. Während seiner Zeit in der Jesus-Pop-Band hat er oft nach Schlägerei ausgesehen. Dann hat er die Band verlassen und ist von der Bildfläche verschwunden. Wer kein Geld hat, treibt sich lieber nicht in der Öffentlichkeit rum, wo alles etwas kostet. Das hat erst ein Ende gefunden, als er fast drei Monate später Cokkos Bekanntschaft gemacht hat.
„Warum habe ich so lange gebraucht, um niederländisch zu lernen?“, redet er von etwas anderem. „Das war zur Hälfte, dass ich nicht bleiben wollte und zur anderen Hälfte, dass ich keine Niederländer kannte. Erst als ich dich getroffen habe, ist das besser geworden. Du hast immer viel mit mir geredet, egal ob ich etwas verstehe. Jetzt will ich auch bleiben.“
Der Job an der Schule muss für ihn der sprichwörtliche Sechser im Lotto sein, geht mir plötzlich auf. Endlich ist nur Wissen gefragt – und seine Herkunft ist total egal. Und deshalb, erleuchtet ein weiteres Licht mein Inneres, war es auch so wichtig für ihn zu wissen, ob ich Djamila gesagt hatte, dass er bosnischer Serbe ist. Djamila ist ein muslimischer Vorname! (95)

Das Seminar ist zum Gähnen langweilig und hält überhaupt nicht das, was ich mir davon versprochen hatte. Wie befürchtet, geht es nur um die Eltern, die ihre Kinder vernachlässigen und die Arbeit uns Pädagogen aufhalsen. Natürlich gibt es solche Eltern. Aber man darf das nicht pauschalisieren, denn den paar Eltern steht eine schweigende Mehrheit von Vätern und Müttern gegenüber, die sich jede nur erdenkliche Mühe geben, um ihrem Nachwuchs den Einstieg ins Erwachsenenleben zu erleichtern.
Erschwerend kommt hinzu, dass ich mich kaum konzentrieren kann. Draußen ist allerwunderschönstes Sommerwetter, kleine Wölkchen segeln über den knallblauen Himmel. Jetzt draußen auf dem Wasser … Salz in der Nase … Brise im Gesicht … Möwen auf dem Wind … das Rauschen der Wellen … und ansonsten gar nichts, was mich vom Wohlfühlen ablenkt …
Schweren Herzens verlasse ich meinen Tagtraum und beschließe, mir ein Beispiel an Miloš zu nehmen. Der hört die ganze Zeit aufmerksam zu. Hin und wieder macht er sogar Notizen.
Wer von uns beiden ist denn hier der Lehrer? Ich setze mich aufrechter hin und schlage die aktuelle Seite auf. Der Vortragende ist mir schon wieder drei Seiten voraus gewesen! Das darf mir echt nicht passieren, schließlich hat die Schule meine Teilnahme bezahlt, und bis jetzt war das kein besonders gut investiertes Geld.
Doch es dauert gar nicht lange (keine Ahnung, wie lange, ich habe nicht auf die Uhr geguckt), da bin ich wieder gedanklich auf dem IJsselmeer unterwegs.
Wenn ich bloß wüsste, was er da so eifrig mitschreibt! Leider haben wir keine benachbarten Stühle bekommen, er sitzt ein paar Meter schräg vor mir. Wir waren nämlich heute morgen etwas spät dran und mussten Plätze nehmen, die noch frei waren. Was fällt den Leuten eigentlich ein, nur noch einzelne Stühle frei zu lassen? Aber nachher ist Mittagspause, vielleicht schaffen wir es danach, nebeneinander zu sitzen.
Die einzige Abwechslung, die mich von meinen Segelträumen ablenkt, ist ein Rollenspiel. Der Seminarleiter bestimmt mich zum Vater eines Kindes, das in der Schule nicht mitkommt.
Ich gebe mir ein bisschen Mühe, nicht gar so pädagogisch wertvoll zu sein und der einigermaßen unwillige Vater gelingt mir recht gut, schätze ich. Zumindest meine schauspielerischen Fähigkeiten werden durchaus erkannt und honoriert, als ich wieder zu meinem Platz zurück darf. Dabei komme ich an Miloš vorbei und werfe einen Blick auf seine Notizen – und ich muss echt an mich halten, um nicht laut loszulachen. Mit großem Talent zeichnet er windschnittige Autos, an denen nackte Frauen lehnen und garniert das mit kurzen Zeilen kyrillischer Buchstaben. Das kann wer weiß was heißen. Ich nehme aber an, dass es nicht viel mit Pädagogik zu tun hat.

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