„Bis sie sich zuhause fühlte, eine Arbeit gefunden hat, noch eine andere Freundin, vielleicht ein neues Hobby. Was macht es denn sonst aus, ob du dich irgendwo zuhause fühlst? Das ging ganz gut voran. Aber als ich ihr sagte, nun bist du eingewöhnt, ich gehe zurück, ist sie schlimm krank geworden. Ich kann sie nicht alleine lassen, wenn sie im Krankenhaus ist, auch wenn sie hundert Freundinnen da hat. Also habe ich gewartet, bis sie wieder gesund war. Dann habe ich gesagt, dir geht’s wieder gut, ich will endlich nach Hause und sie ist wieder krank geworden. Ein ganzes Jahr ist das so gegangen. Dann ist die Freundin gestorben, ganz plötzlich, und ab da wurde es nur schlimmer.“ Für ein paar eilige Eisenbahnkilometer schaut er aus dem Fenster.
„Aber da war ich ja schon ein Jahr lang hier und kannte niemanden und hatte nur meine Mutter, wenn sie gesund ist und sonst noch weniger Leute. Da habe ich nur unsere Zeitung gelesen, unser Fernsehen geguckt und mit Landsleuten geredet. Aber man muss ja auch arbeiten. Ohne Sprache? Schwierig! Also hatte ich Jobs in Fabriken, Sachen sortieren, zusammen bauen, verpacken, oder in der Landwirtschaft, wo man nichts denken muss, nur tun, was der Vorarbeiter sagt.“ Nach einer weiteren Pause schließt er: „Keine gute Zeit.“
„Kein Wunder bei solchen Arbeitsstellen.“
„Das hatte nichts mit den Arbeitsstellen zu tun. Hast du von Srebrenica gehört?“
Ich nicke. Kaum ein Niederländer, der den Namen der ostbosnischen Stadt nicht kennt. Srebrenica ist eine nationale Tragödie für uns geworden. (94)
„Du weißt, was da passiert ist?“
Ich nicke wieder. „Warst du auch da?“
„Nein.“ Er atmet tief durch. „Ich war nicht im Krieg. Ich bin zur Musterung bestellt worden, aber ich habe gesagt, dass ich … wie sagt man … dijabetes melitus?“
„Heißt bei uns genauso. Diabetes Mellitus.“
Er nickt. „Ich hatte vorher schon geübt, die Spritzen zu setzen und bei der Musterung hatte ich so viel Angst, dass ich ganz von selber gezittert habe. Hinterher hätten sie mich bestimmt noch eingezogen, aber da waren wir schon untergetaucht.“
„Ist das nicht ziemlich ungesund, Insulin zu spritzen, wenn man keins braucht?“
Er schnaubt. „Krieg ist noch ungesünder.“
Stimmt. „Aber was hat das mit deinen Arbeitsstellen zu tun?“, suche ich den roten Faden.
„Wegen Srebrenica werden wir bosnische Serben von sehr vielen Moslems gehasst. Natürlich wehre ich mich, wenn ich angegriffen werde. Der Vorarbeiter kommt, sieht die Prügelei, fragt, wer angefangen hat, und weil meist die Moslems in der Mehrzahl sind und nicht die Serben, sagen sie, ich hätte angefangen. Natürlich ohne Grund, einfach so. Also fliege ich raus. Irgendwann fangen die Chefs an, bei anderen Chefs nachzufragen, warum es immer Ärger mit mir gibt. So kommt mein Ruf, dass ich ein schlechter Typ bin.“
„Warum hast du das denn nicht richtig gestellt? Du hattest doch nicht angefangen?“
„Mit welcher Sprache hätte ich das tun sollen?“, schnappt er. „Deswegen bekomme ich keinen Job mehr. Das Arbeitsamt sagt, wer immer Streit macht, braucht kein Geld von uns. Pech gehabt.“
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