30. August 2015

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„Und du kannst sowas?“
Jetzt lacht er. „Natürlich! Ich bin damit aufgewachsen.“
„Aber du schreibst doch sonst mit den normalen Buchstaben?“
„Mit der lateinischen Schrift bin ich genauso aufgewachsen. Wenn es schnell gehen muss, schreibe ich allerdings so.“ Er tippt auf das Gedicht.
„Versteh ich nicht.“
„Pass auf, das ist so: Serbokroatisch ist die Hauptsprache Jugoslawiens gewesen. Es setzt sich zusammen aus Serbisch, Kroatisch und Bosnisch. Die Hauptschrift war die lateinische. Deswegen haben die Serben vor dem Krieg auch viel lateinisch geschrieben. Wir waren doch ein Jugoslawien, da kannst du nicht zwei Sprachen und so haben.“
„Aha. Aber nach dem Krieg, da geht das mit zwei Sprachen und zwei Schriften und Republika Srpska und so weiter und jeder kocht sein eigenes Süppchen, he?“ (93)
„Nein, da geht das auch nicht“, sagt er und klingt müde. „Das Land wird so lange im Stillstand sein, bis die Serben sich mit den anderen einigen. Sonst haben sie keine Chance.“
Und das aus dem Mund eines bosnisch-serbischen Patrioten!


vierundsechzigstes Kapitel

Die erste Juliwoche ist dieses Jahr etwas ganz Besonderes für alle Schulkinder: Die großen Ferien fangen an!
Bis zu meinem Jahresurlaub dauert es noch ein kleines Weilchen. Zuerst habe ich einige Fortbildungen, die mich die kommenden drei Wochen beschäftigen werden. Die erste findet in Amsterdam statt und die übrigen in meiner guten alten Pabo in Alkmaar.
Miloš gibt vor, brennend an der ersten interessiert zu sein und fährt mit.
Er ist mir ein bisschen unheimlich geworden, weil er auf einmal ständig mit Büchern unterwegs ist, und dann nur so philosophisches Zeug. „Leichtigkeit des Seins“ und so. Von wegen, das ist gar nicht leicht, ich hab versucht es zu lesen!
Lehrer und Schüler haben sich darauf geeinigt, die Zusammenarbeit in Godfrieds Ruhestand fortzusetzen. Das hat der alte Lehrer mir erzählt – Dienstgeheimnis hin, Dienstgeheimnis her. Viele Fragen ergäben sich daraus, dass Miloš einmal pro Woche die georgische Familie besuche (ich wusste gar nicht, dass er das tut) und dort an der überwiegend sprachlichen Integration mithelfe. Am liebsten sprächen sie aber über Politik und Geschichte ihrer beiden Nationen.
Godfried klingt wie ein stolzer Vater, wie er so von seinem klugen Schüler schwärmt. Das macht mich froh, denn in einer liebevollen Umgebung lernt es sich gleich doppelt gut. Eins verstehe ich jedoch nicht: Wenn ihm das alles so wichtig ist – wieso hat er dann fast vier Jahre gewartet, bis er sich zu dieser Integrationsmaßnahme aufgerafft hat?

Die passende Gelegenheit, danach zu fragen, ergibt sich schon eine Woche später, als wir auf dem Weg nach Amsterdam sind. Das Thema lautet: „Der richtige Aufbau eines Elterngesprächs zur optimalen Förderung des Kindes“, und ich hoffe, es geht nicht nur um die Eltern, die nichts tun und die Erziehung ihres Kindes den Lehrern überlassen.
Der Zug von Zuyderkerk nach Hoorn ist völlig überfüllt und an eine Unterhaltung kann man vielleicht denken, aber sicher nichts davon hören. Doch in unserem Anschlusszug ist mehr Ruhe und wir haben sogar zwei Sitzplätze nebeneinander gefunden.
„Das ist eine lange Geschichte. Es fing damit an, dass meine Mutter aus Srpska ausreisen wollte. Sie hatte eine Freundin von früher, die schon ein paar Jahre hier in Zuyderkerk wohnte, da wollte sie hin. Die Freundin hatte sie eingeladen zum Bleiben. Sie hat so gebettelt, dass ich mitgekommen bin. Nur zur Eingewöhnung, hat sie gesagt. Deswegen habe ich mich nicht um einen Sprachkurs gekümmert. Ich dachte ja, ich habe nur einen kurzen Aufenthalt.“
„Wie kurz sollte der Aufenthalt denn sein?“

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