30. August 2015

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Einen Satz Klötzchen brauche ich allerdings nicht für andere Kinder, sondern der liegt seit Fertigstellung hübsch verpackt in einem meiner Werkstattschränke. Das Päckchen soll in Rotterdam geöffnet werden, von einem anderen werdenden Ingenieur.
Cokko zieht nämlich schon jetzt, Anfang Juni, dorthin um. Ich habe keine Ahnung, wie er das immer macht, jedenfalls hat er einen Job gefunden und kann auch schon in der WG unterkommen, die er sich vor einem Monat angeguckt hat, weil ein Student früher als geplant ausgezogen ist.
Ich könnte das nicht, in einer fremden Stadt, in der ich erst einmal war, mit Leuten, die ich nie zuvor gesehen habe, einen Job vereinbaren – vielleicht liegt das daran, dass ich ein Landei bin. Rotterdam ist nicht so wahnsinnig groß, es hat bloß um die 600.000 Einwohner, aber mir ist es entschieden zu groß. Viel zu viele Straßen, Autos und Menschen tummeln sich da, es ist zu laut und zu viel passiert gleichzeitig.

Am Umzug beteilige ich mich selbstverständlich, egal wie groß die Stadt auch ist.
Pieter hat uns sein Auto geliehen, er selber konnte leider nicht, weil er zu einem Vorstellungsgespräch nach Südengland unterwegs ist. Hoffentlich klappt es! Ich wünsche es ihm so sehr, auch wenn wir uns dann kaum noch sehen können. Allerdings wird London täglich von Rotterdam aus angefahren, das dauert drei oder vier Stunden. Ein Katzensprung.
Cokko hat zum Glück nicht viele Sachen, denn die Treppen bis in den fünften Stock werden bei jedem Aufstieg steiler und endloser. Leider sind auch alle übrigen Mitglieder der WG außer Haus, sodass niemand beim Tragen helfen kann. Außerdem hätte ich sie gerne zu Gesicht bekommen.
Und dann wird es ganz fürchterlich. Wir stehen unten vorm Haus, der Verkehr tost auf der zweispurigen Straße und vor mir liegt die Autofahrt nach Hause, in Zuyderkerks Ruhe. Und in die Einsamkeit meiner Wohnung. Vermutlich werden wir uns erst zur Strandfete wieder sehen. In zwei Monaten. Acht Wochen. Entsetzlich vielen Tagen.
Vermutlich gucke ich entsprechend, denn Cokko nimmt mich in den Arm und streichelt über meinen Kopf. „Soll ich dich heute Abend anrufen?“, fragt er.
Ich nicke.
„Soll ich vielleicht jeden Abend anrufen?“
Ich nicke erneut.
„Und sollte ich zusätzlich, bis du dich wieder an deine Single-Wohnung gewöhnt hast, jedes zweite Wochenende nach Hause kommen?“
„Jahaaa“, dehne ich.
„Warum hast du mich das dann nicht längst gefragt, sondern guckst nur, als würde ich zum Mars fliegen?“
„Na ja“, stammele ich, „weil du das ja für Simone auch nicht tun wolltest, und mit der warst du immerhin zusammen, und ich bin ja bloß dein Bruder.“
„Falschrum“, sagt er. „Mit Simone war ich bloß zusammen, du bist aber immerhin mein Bruder. Warum glaubst du nur, dass es eine Zumutung ist, Zeit mit dir zu verbringen?“
Darauf fällt mir nichts ein.
„Ganz im Gegenteil. Du bist angenehme Gesellschaft. Ich hänge gern mit dir rum.“
Noch mehr davon und ich fange an zu heulen, hier, auf offener Straße, mitten in der zweitgrößten Stadt des Landes.
„Aber jetzt fährst du besser nach Hause, damit du nicht noch in den Feierabendverkehr gerätst. Ja? Und heute Abend ruf ich dich an.“
Ich nehme ihn feste in den Arm und steige dann eilig ein, damit er nicht sieht, ob ich nasse Augen habe oder nicht.

Ohne größere Unterbrechungen fahre ich zurück; das Auto findet den Weg fast alleine.
Und bevor ich mich so richtig einsam fühlen kann, ruft Cokko schon an und fragt, ob ich gut angekommen bin und noch so dies und das.
Den nächsten Tag (es ist ein Sonntag) verbringe ich mit Mommi und dann stürze ich mich in den Schulalltag, die Bandproben, das Segeln, die Treffen mit Pieter und Becks bzw. mit Pieter ohne Becks oder mit Miloš und versuche, meinen Bruder nicht ständig zu vermissen. Die Kumpels geben sich jegliche Mühe, damit das gelingt.

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