30. August 2015

183

Zur ersten Bandprobe nach meiner Zettelaktion kommt aber jemand zu Besuch, der nicht Brötchenkaufen war. Simone bringt einen jungen Mann mit.
Ich habe nicht mitbekommen, ob sie oder Cokko die Beziehung beendet hat, aber offen­sichtlich ist das passiert. Mithilfe meiner herausragenden Menschenkenntnis (87) sehe sogar ich gleich bei den ersten Blicken, die sie ihrem Neuerwerb zuwirft, dass sie verknallt ist.
„Das ist Tim“, stellt sie ihn vor, nachdem sie ihm unsere Namen gesagt hat.
Er kann aber auch selber sprechen, denn gleich darauf erklärt er: „Simone sagt, dass ihr einen Sänger für die Band sucht.“
„Das ist richtig“, bestätige ich und gebe ihm ein Liederheft. „Kennst du eins daraus? Blätter mal durch.“ Grundsätzlich bin ich dafür, ihn in die Band aufzunehmen. Ich finde nämlich, dass Hardrock nicht von Frauen „besungen“ werden sollte. Frauen haben dafür einfach nicht die richtige Stimme, sie ist zu hoch und um so richtig rumbrüllen zu können, fehlt ihnen auch Stimmvolumen.
Schon das dritte Lied ist ihm geläufig und er summt die Melodie vor sich hin. „Ist es das?“, vergewissert er sich, „Es gibt ja viele Lieder, die den gleichen Anfang haben.“
Wir übrigen nicken und Miloš schlägt den ersten Akkord an. Bei ihm hat Tim schlechte Karten, weil er ein Kumpel von Simone ist. Miloš mag Simone nicht. Lisanne und ich schätzen sehr, dass er es Simone nicht spüren lässt. In Situationen, in denen mir ein böser Spruch entschlüpfen würde, hält er einfach seine Klappe, grinst und denkt sich seinen Teil. Manchmal wünsche ich mir, ich hätte diese Disziplin auch.

Nach dem Lied schaut sie uns begeistert an. „Und, was sagt ihr?“
„Das passt nicht besonders gut“, fasst Lisanne die Meinungen diplomatisch zusammen. Sie wendet sich an Tim: „Du singst sehr schön, aber zu hoch für unsere Musik. Wir hatten an eine eher tiefere Stimmlage gedacht.“
Genau, denke ich, in einem Chor wäre er sicher besser aufgehoben als bei uns. So können wir ja auch eine Frau dazu holen.
„Na ja, klappt halt nicht immer“, winkt er ab und packt seine Sachen. Simone guckt ihm sehnsüchtig hinterher.
Meine Menschenkenntnis sagt mir, dass wir bald keine Gitarristin mehr haben werden.

Zwei Proben vergehen, ohne dass etwas passiert, dann ruft mich ein gewisser Luke an, der den Aushang beim Bäcker gefunden hat. Doch anstatt am darauf folgenden Dienstag im Raum oberhalb der Backstube wahlweise zu singen, zu grölen oder zu brüllen, macht er sich nur über die Christen und ihren Gott lustig, nachdem er herausgefunden hat, wem die meisten Lieder gelten.
Wir haben ihn kaum hinauskomplimentiert und uns zu einem Kaffee in die Sofaecke verzogen, als eine kleine dicke Frau den Proberaum betritt.
„Tagchen, ich hab in der Stadt gehört, dass ihr einen Sänger für eure Band sucht – das stimmt doch, oder?“, kommt sie gleich zur Sache.
„Ja, das ist richtig“, sage ich.
„Okay, das klingt gut. Ich heiße Merle.“
Ich stelle uns auch vor und lasse ihr wie allen vor ihr die Wahl: „Willst du uns was singen oder willst du erst mal hören, wie wir so sind?“
Nachdem ich so gründlich mit meiner These baden gegangen bin, dass wir Männer die besseren Rocker sind, muss ich dieser Merle wenigstens die Chance geben, mich vom Gegenteil zu überzeugen. Und zufällig weiß ich, dass „Merle“ ein anderer Name für die Amsel ist, daher dürfte eigentlich niemand anders für uns singen als jemand mit einem Vogelnamen.

Keine Kommentare: