26. August 2015

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„Für die Kinder ist es wie ein Spiel. Hier drunter“, gehe ich weiter in meiner Aufzählung, „habe ich neue Vorlagen für Bastelarbeiten gemacht–“
„Aber sag mal“, unterbricht er mich, „ist das denn nicht viel zu spät, wenn du jetzt erst mit dem Leseunterricht anfängst? Es ist doch schon das letzte Viertel des Schuljahres. Was hast du in den drei Vierteln vorher gemacht?“
„Nein, das ist für die Kleinen. Bis zum Sommer lernen sie die Buchstaben im Großdruck, damit sie sie alle mal gesehen haben und wissen, was man damit anstellen kann, wie sie klingen und wie man einfache Wörter daraus bilden kann. Nach dem Sommer geht es dann mit dem Schreiben los. Das ist dann immer noch keine Schreibschrift, sondern eher Druckbuch­stabenmalerei, aber sie kriegen ein Gespür für die Zusammenhänge von Schrift und Sprache, sie finden vielleicht schon da Gefallen am Lesen.“
„Ist denn das so schwierig?“
„Es kann schwierig werden, wenn die Grundlagen nicht stimmen. Die meisten Analphabeten können nicht etwa nicht schreiben, weil sie in der Schule gepennt hätten, sondern weil die Lehrer oder ihre Eltern zuviel Druck ausgeübt haben, weil sie motorisch schlecht vorbereitet waren, weil sie nicht gut genug gefördert wurden, weil sie den Unterricht nicht verfolgen konnten – zum Beispiel, weil sie einen Hör- oder Sehfehler hatten, weil sie sich vielleicht Sorgen über die Zukunft machten–“
„Kleine Kinder?!“
„Na sicher. Denk doch mal, wenn deine Eltern sich trennen, ist auf einmal dein ganzes Leben aus dem Lot. Dann hast du keine Ruhe zum Lesen lernen. Deswegen fangen wir das Ganze als Spiel an und lassen jedem Kind so viel Zeit, wie es braucht.“
„Deswegen fangt ihr nämlich auch jetzt damit an und nicht erst nach den Sommerferien“, fasst er zusammen.
„Genau. Gerade die ersten Schuljahre sind von großer Bedeutung für deine restliche schulische Karriere. Wenn du früh gelernt hast, dass Schule unangenehm ist, dass du die Inhalte sowieso nicht kapierst oder nicht so schnell wie die anderen in deiner Gruppe – was macht das mit dir? Du musst ja glauben, dass du dumm bist. Und das blockiert dich dann womöglich für den Rest des Lebens.“ (85)
„Krass“, macht er nachdenklich, um dann wieder einmal das Thema zu wechseln: „Wärst du früher gerne auf die Schule gegangen?“
„Ich bin auf die Schule gegangen. Warum fragst du?“
„Was, du bist an der selben Schule Lehrer, an der du früher als Kind warst? Hattest du keine Angst, dass die Kollegen dich wie ein Kind behandeln könnten?“
„Nein, warum sollten sie das tun? Außerdem sind in den unteren Gruppen längst andere Leute. Ein paar von den alten Kollegen kennen mich noch von früher, aber ich habe ja mit dreizehn die Schule gewechselt, da bin ich zu Gerrit und Marjorie nach Alkmaar umgezogen, deswegen hat es mich nie gestört. Außerdem war ich immer lieb“, schließe ich sehr überzeugt.
„Du und immer lieb“, zweifelt Cokko.
„Ich weiß nicht, wie das mit dir ist, aber ich habe wahnsinnigen Hunger. Ich könnte uns was kochen“, werfe ich in den Ring.
Er grinst. „Du lenkst ab, Bruderherz. Aber, ja, koch uns was. Weißt du, das hat mir letzte Woche richtig gefehlt.“

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