26. August 2015

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Cokko wird genau in der Woche in Rotterdam verweilen, wo er ja im Sommer sein Studium beginnen will. Wie man ihn kennt, kommt er lieber gut vorbereitet in die Stadt. Deswegen will er sich schon jetzt nach einer WG umsehen und erste Kontakte knüpfen. Simone nimmt er dazu nicht mit, weil die ihn ‚ablenken’ würde, wie er es mir gegenüber formuliert hat. Dass er sich keine nähere Uni ausgesucht hat, passt ihr gar nicht. Mit verschiedenen Mitteln versucht sie nun, ihren Willen durchzusetzen, aber das bestärkt ihn nur, bei seinem Entschluss zu bleiben und nach dem beruflichen Ziel und nicht nach der Beziehung zu entscheiden. Er geht davon aus, dass sie kurz vor oder nach Beginn seines Studiums Schluss machen wird, und es scheint ihm nicht viel auszumachen. Das Studium ist ihm wichtiger, obwohl er noch gar nicht weiß, wie es wird und mit welchen Dozenten und Mitstudenten er zu tun haben wird.
Seine Willensstärke macht mich neidisch. Wie wünsche ich mir, damals, als ich noch mit Helena zusammen war, auch so zielstrebig gewesen zu sein!
Vieles wäre viel einfacher gewesen, wenn sie mich nicht mit einem bittenden Blick bzw. rationalen Argumenten zu fast allem hätte überreden können.

Die Tage ohne ihn fangen damit an, dass ich mich auf gar nichts konzentrieren kann. Es ist so still in der Wohnung! Niemand kommt von der Arbeit, niemand streicht interessiert durch die Küche und guckt, was in den Töpfen ist und niemand mosert mich morgens an, weil ich mit Inbrunst singend aus der Dusche steige.
Wie soll das bloß werden, wenn mein Bruder im Sommer ganz nach Rotterdam zieht? Ob ich ihn wohl, Willensstärke hin oder her, überreden kann, ein Wochenende pro Monat bei mir zu verbringen? Aber wahrscheinlich ist das albern. Ich bin ja kein alter Onkel, nach dem er regelmäßig sehen müsste.
Zum Glück kommen Pieter und Becks zum Essen und vertreiben die Einsamkeit und dienstags ist ja auch Bandprobe. Wir sind nicht sehr produktiv, aber es lenkt mich von meiner leeren Wohnung ab.
Am nächsten Morgen gerate ich endlich in das, was ich einen „kreativen Fluss“ nenne, die Ideen kommen, die Arbeit geht leicht von der Hand, die Ergebnisse sind gut. Und kaum ist das alles erreicht, steht mein Bruder wieder auf der Matte.
„Wie ist es dir ergangen?“, erkundige ich mich.
„Prima. WG und alles ist geregelt, die Leute sind nett … zumindest was man so nach drei Tagen sagen kann … und an der Uni sieht es relativ übersichtlich aus.“
„Also was du übersichtlich nennen würdest, nehme ich an. Für mich gäbe es bestimmt reichlich Möglichkeiten, mich zu verlaufen.“
„Ach wo, so schlimm ist das gar nicht. Und außerdem hast du doch auch ein Studium absolviert und bist zu Lebzeiten wieder aus den Gebäuden gekommen. Denk nicht immer so schlecht von dir. Bist du auch erfolgreich gewesen? Du wolltest doch einige Sachen für die Schule tun.“
„Ja, hab ich. Willst du gucken?“
Cokko nickt und ich hole die Unterrichtsmaterialien hervor. Zuoberst liegen Großbuchsta­ben aus dünnem Sperrholz.
„Wofür sind die?“
„Die Kinder können sie beim „ersten Lesen“ als Vorlagen für ihre Pappbuchstaben nutzen. Vielleicht hilfst du mir gleich, sie bunt anzupinseln.“
„Ich nehme rot und blau“, legt er sich fest, aber daraus wird nichts: „Die kriegen ganz bestimmte Farben. Ich zeig dir gleich eine Liste, in der das alles steht. Die Buchstaben, die als erstes gelernt werden, haben natürlich andere Farben als die, die man seltener braucht.“
„Das klingt kompliziert.“

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