26. August 2015

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„Nein, verdammt! Lass das Feld halt frei, wenn deine Schule so einen schrecklichen Ruf hat. Immerhin hast du in der Schule nicht viel Russisch gelernt, sondern im Arbeitsleben, da wird es nicht so wichtig sein.“
„Was meinst du damit, dass meine Schule einen schrecklichem Ruf gehabt hätte?“
Ich verdrehe die Augen. Hätte ich die Arbeit lieber doch Mommi überlassen sollen?
Wie aufs Stichwort wird nebenan das Bügelbrett zusammen geklappt, kurz darauf betritt sie das Zimmer. „Wann wollt ihr eigentlich damit fertig werden?“
„So wahnsinnig lange wird es nicht dauern, bis ein Personalbogen ausgefüllt ist“, hoffe ich.
„Dann solltet ihr nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Nur so als Tipp.“ Und zu Miloš sagt sie: „Du hast auch noch was anderes zu tun.“
„Was denn?“, will ich sofort von ihr wissen.
Wortlos verlässt sie das Wohnzimmer in Richtung Flur.
„Was hast du noch zu tun?“
Wieder atmet er mehrfach tief durch. „In der Schule übersetzen ist nicht nur zu übersetzen, sondern ich brauche Schulwissen.“
Hä? „Übersetzen ist nicht nur übersetzen? Und was für ein Schulwissen willst du haben? Insiderkram aus dem Kollegenkreis?“
Er holt Luft. „Wenn ich in Mathematik übersetze, ist es einfach. Das ist auf der ganzen Welt gleich. Aber fast alle anderen Schulfächer sind unterschiedlich. Ein Beispiel. Ich habe als Kind gelernt, dass der Kommunismus die beste Staatsform der Welt ist. Du hast wahrscheinlich das Gegenteil gelernt. Also brauche ich Schulwissen.“
„Aha.“
Was sonst – er atmet durch!
„Kannst du dieses Geschnaufe mal sein lassen?“
Abrupt schreit er mich an: „Nein, kann ich nicht!“
„Und wieso schreist du auf einmal so rum?“
„Weil du mir die ganze Zeit tierisch auf die Nerven gehst mit deinen komischen Fragen! Also hole ich Luft, damit ich mich beherrschen kann!“
Um ihn abzulenken, weise ich auf ein Stück Papier, das neben ihm auf dem Fußboden liegt: „Dir ist da was runter gefallen.“
Er hebt es eilig auf und im selben Moment erkenne ich es: „He, wieso behauptest du, dass du den Zettel verloren hast, wenn er in deiner Hosentasche ist?“
Das ist ihm peinlich – so sehr, dass man es ihm ansieht. „Ich habe dich angelogen.“
„Aber warum?“
Er guckt mich noch immer nicht an. „Weil ich es nicht lesen konnte.“
„Warum sagst du das nicht einfach? Die meisten Menschen können meine Schrift nicht lesen, außer ich konzentriere mich auf leserliche Buchstaben.“
„Warum konzentrierst du dich dann nicht immer auf Leserlichkeit?“
„Weil ich nicht drüber nachgedacht hab.“ Stattdessen denke ich jetzt mal über ein paar andere Dinge nach, schließlich wollen wir ja tatsächlich eines Tages hier fertig werden. Zum Beispiel was das Schulwissen betrifft. Da hat er völlig recht. Übersetzen ist nicht nur die Sprache umzuwandeln, es heißt auch, die Inhalte richtig zu vermitteln. Und er muss den beiden Mädchen ein paar Schritte voraus sein. Allerdings habe ich den dunklen Verdacht, dass Djamila sich nicht damit befassen will, ihrem Unterrichtshelfer erst mal den Lernstoff nahe zu bringen. Das kann ja auch nicht ihre Aufgabe sein.
Aber wessen Aufgabe ist es dann? War er vielleicht deswegen hier bei Mommi und es ging in erster Linie gar nicht ums Ausfüllen?
„Soll ich dir das Schulwissen beibringen?“
„Bloß nicht!“, schnaubt er automatisch, um sich gleich darauf zu entschuldigen: „Du bist mein Freund, ich will nicht, dass du mein Lehrer bist.“
„Wer soll es sonst machen?“
„Das weiß ich nicht.“

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