4. Juli 2015

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Ziellos fahre ich durch die leeren Straßen der Altstadt, komme zuhause an und weiß genau, dass ich jetzt nicht in meiner Wohnung sein will. Also fahre ich weiter und lande schließlich bei Pieter. Wo sonst.
Er guckt mich an und sagt: „Ach du Scheiße, was ist denn mit dir los?“
„Ich hab gerade mit meinem Vater Schluss gemacht.“
„Was hast du gemacht? Ich versteh kein Wort.“
„Ich hab einen Halbbruder, der einundzwanzig ist. Cornelius. Er ist in Kanada aufgewachsen, Lucy ist ja vor vielen Jahren dahin ausgewandert. Vorletzte Woche stand er plötzlich vor meiner Haustür, als ich nach Dersummeroog los wollte. Ich hab ihn natürlich mitgenommen auf die Insel und wir haben eine gute Zeit gehabt.“
„Warum hast du mir nie von ihm erzählt?“, stellt Pieter die einzig sinnvolle Frage.
„Das ist der springende Punkt: Weil ich es nicht wusste. Gerrit hat es mir verschwiegen. Marjorie wusste von Cokkos Existenz, er selber wusste alles mögliche von mir, sein Vater auch, Mommi wusste, dass es ihn gibt, einfach alle. Sie haben sich drauf geeinigt, nur mit mir über die kanadische Verwandtschaft zu reden, wenn ich das Thema drauf bringe. Wie kann ich das Thema auf was bringen, wovon ich gar nichts ahne? Vorhin hat Mommi ihn zu sich bestellt. Er sagt, er hätte einen geeigneten Zeitpunkt abgewartet, aber es hätte sich keiner ergeben.“ Es brodelt immer noch in mir, doch es wird schwächer.
„Aber du hast doch sechs Jahre bei ihm gewohnt!“
Ich nicke. „Deswegen hab ich mit ihm Schluss gemacht. Er hat die ganze Zeit geschwiegen, also hat er mir jetzt auch nichts mehr zu sagen. Er ist mein Erzeuger, mehr nicht.“
„Und das Gespräch ist bei deiner Mommi gewesen?“
Ich nicke erneut.
Er nimmt das Telefon (er fragt nicht mal, ob er unser Gespräch unterbrechen darf) und tippt eine kurze Nummer. In den Hörer sagt er: „Hier ist Pieter. Jeremy ist bei mir, machen Sie sich keine Sorgen.“

Wir haben die halbe Nacht gebraucht, um so etwas wie Ordnung in mein Durcheinander zu bringen. Ich weiß nicht, wie trostlos mein Leben wäre ohne diesen besten Freund.
Er ist kein Christ; leider. Deswegen habe ich bei jedem erarbeiteten Punkt im Stillen zu Jesus gebetet, dass er mein Herz heil macht. Würde er so wie ich glauben, hätten wir zusam­men gebetet.

Mittags finde ich mich bei Mommi ein, aber wir reden nicht viel. Sie ist froh, dass ich das Gespräch so konstruktiv hinter mich gebracht habe, wie versprochen ohne Ausras­ten und anderen Lärm, und sie ist nicht froh darüber, das ich mit Gerrit gebrochen habe. Aber sie sagt, dass ich erwachsen bin und dass es meine Entscheidung ist und dass sie hofft, dass ich meinem Vater eines Tages verzeihen kann.
Wahrscheinlich werde ich das eines Tages tun. Aber noch bin ich viel zu wütend.

Später gehe ich zu Pieter, denn Cokko hat mir ja diese Postkarte mit den vielen Kommuni­kationswegen gegeben.
„Webseite, Facebook- und Myspace … oh, was ist denn das?”, hält er verwundert inne, „Computing Q&A blog? Wer braucht denn so was? Außerdem Skype, ICQ, AIM und MSN. Was die technische Ausrichtung betrifft, seid ihr euch nicht besonders ähnlich, he?“
Ich hebe die Schultern, weil ich die meisten seiner Worte nicht verstanden habe. Pieter liest auch schon weiter, was mein Bruder notiert hat. „Sogar die geografischen Koordinaten, ich werd verrückt. Der meint es wirklich ernst. Hier, das ist die Emailadresse. Wenn du willst, kannst du direkt loslegen, die anderen Sachen erklär ich dir dann später mal.“
In meiner Email geht es hauptsächlich darum, wie sich mein Blick auf die Ereignisse meiner Kindheit geändert hat. In Stichpunkten beschreibe ich, was sich beim gestrigen Gespräch mit Gerrit ergeben hat.

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