4. Juli 2015

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„Ich bin mit dreizehn bei dir und Marjorie eingezogen und ausgezogen, als ich neunzehn war. Und in all den Jahren hat sich keine gute Gelegenheit ergeben?“ Erstaunlicherweise bin ich ganz ruhig – zumindest nach außen. In mir drin bricht gerade alles zusammen, was mit unserer ohnehin kümmerlichen Vater-Sohn-Beziehung zu tun hat. „Die ganze Zeit hast du mir verschwiegen, dass ich einen Bruder habe? Und dass du meiner Mutter Fotos von mir geschickt hast? Und dass du sie besucht hast? Warum das Ganze?“
„Ich wollte dich schützen. Ich wollte dein Weltbild nicht durcheinander bringen.“
„Mein Weltbild? Hast du irgendeine Ahnung, wie mein Weltbild aussieht? Hast du dich je dafür interessiert, wie ich denke? Wie ich fühle? Ich hab doch immer nur deine Freiheit einge­schränkt! Wie hast du es gerade gesagt, ich wäre ein Zappelphilipp mit unberechenbaren Wutausbrüchen gewesen? Gut genug, um mal einen lustigen Sonntag mit mir zu verleben, damit du deinen Kumpels vorschwärmen kannst, was für einen tollen Sohn du toller Kerl doch hast, und ansonsten hast du mich abgeschoben!“
„Das stimmt doch gar nicht, du hast bei uns gewohnt!“
„Ja, weil Marjorie es wollte. Sie wollte, dass ich bei euch wohne! Sie wollte mir ein Zuhause geben, eine Familie!“
„Willst du behaupten, sie hätte das nur getan, weil sie gedacht hat, sie müsste das tun?“
„Nein, das will ich ganz sicher nicht behaupten. Marjorie hat mich wirklich gern, das weiß ich, und ich habe mich bei ihr immer willkommen gefühlt. Auch als ich längst im Studium war, konnte ich immer zu ihr gehen und sie hatte Zeit für mich, sie hat mir zugehört. Was habe ich von dir zu hören gekriegt? Es ist gerade ungünstig? Bei dir ist es immer ungünstig, außer du willst was.“
„Jetzt mach aber mal nen Punkt!“, empört er sich und wird laut. „Du stellst mich ja als totalen Egoisten hin!“
„Das liegt daran, dass du einer bist! Und ein Feigling noch dazu! Mein Weltbild wolltest du schützen! Was glaubst du, was mit meinem Weltbild passiert wäre, wenn du mir gesagt hättest, dass meine Mama wieder geheiratet hat und noch ein Kind gekriegt hat? Du hast das doch genauso gemacht, und, was meinst du, wie war das für mich? Hast du dir da Sorgen um mein Weltbild gemacht?“
„Wie redest du eigentlich mit mir? Immerhin bin ich dein Vater!“
In meinem Kopf macht es „klick“, das Getöse und der Zusammenbruch halten inne, alles ist wie eingefroren. „Nein“, sage ich, und meine Stimme klingt genauso: tiefgekühlt. „Nein, das bist du nicht. Du hast mich gezeugt, ja. Aber das war’s. Mehr hast du nicht für mich getan. Popp ist mein Vater gewesen. Auf dich konnte ich mich nie verlassen. Und jetzt geh, fahr nach Hause, fahr zu deinen drei Söhnen, die dir vielleicht noch vertrauen, und nimm dir wenigstens für sie Zeit, wenn sie dich brauchen.“
Ich sehe, wie er Luft holt, aber ich schneide ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. Dann stehe ich auf und verlasse das Haus.

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