„Und tu mir bitte noch einen Gefallen“, sagt Mommi, „Geh raus vor die Tür und mach hinter dir zu. Ich muss mit deinem Vater telefonieren und ich will, dass du das nicht hörst. Ich lasse dich gleich wieder rein.“
Ich verstehe gar nichts, aber ich tue, was sie sagt. Sie wird ihre Gründe haben, warum sie mich raus schickt. (46)
Es dauert nicht lange.
„Was hast du mit ihm geredet?“, will ich wissen.
„Er kommt hoffentlich hier hin, dann könnt ihr das direkt klären. Es wird wahrscheinlich hart für dich“, sie atmet schon wieder tief durch, „Ja, ich glaube, es wird ein sehr harter Abend für dich. Dein Vater hat einen schweren Fehler gemacht. Ich hoffe, dass du ihm das eines Tages verzeihen kannst. Darf ich beten?“
Das Brodeln in mir ist ein ohrenbetäubendes Getöse geworden. Ich nicke.
Trotz der angespannten Stimmung begrüßt sie ihn so, wie sie ihn immer begrüßt; sie ist nun mal seine Mutter. Ich darf mich mit einem Handschlag zufrieden geben, aber das war auch schon immer so. Als kleiner Junge fand ich es cool, aber mittlerweile denke ich, ein bisschen mehr Körperkontakt hätte mir nicht geschadet.
„Seit wann hast du denn die Haare ab?“, wundert er sich.
„Seit September.“
„Und warum hast du sie abgeschnitten?“
„Bist du gekommen, um mit mir über meine Frisur zu reden?“, versetze ich dem Thema den rhetorischen Todesstoß.
Mommis mahnender Blick heißt „sei nicht so grob zu ihm“, aber sie fragt: „Kann ich euch allein lassen?“
„Ja“, sagt Gerrit, und zugleich ich: „Nein.“
„Jeremy, ich setze mich in die Küche, ich gehe nicht weg.“
„Nein“, verlange ich und fühle mich, als würde ich immer jünger, immer kleiner, bis ich zehn bin oder elf. Schutzlos, ausgeliefert, voller Angst. „Du sollst hier bleiben.“
„Tja“, sagt sie achselzuckend zu Gerrit, „also bleibe ich hier. Fang an.“
„Womit soll ich denn anfangen?“, blockt er ab.
„Zum Beispiel damit, warum du mir versprochen hast, deinem Sohn von seiner kanadischen Verwandtschaft zu erzählen, spätestens wenn er zwölf ist – und er jetzt völlig ahnungslos ist. Du hast mir versprochen, dass du es ihm sagst. Warum hast du das nicht getan?“
„Es hat sich halt nicht ergeben! Du stellst dir das so einfach vor, aber wie das Leben wirklich gewesen ist mit so einem Zappelphilipp mit unberechenbaren Wutausbrüchen und zwei kleinen Kindern, davon hast du keine Ahnung!“
Mommi hebt die Augenbrauen. „Es hat sich nicht ergeben? Ist das dein Ernst?“
Gerrit schnaubt wegwerfend.
Ich muss mich erst räuspern. „Verstehe ich das richtig, dass du mir, als ich zwölf war, sagen wolltest, dass meine Mutter in Kanada noch ein Kind gekriegt hat, das dann mein Bruder ist, und es hat sich keine gute Gelegenheit ergeben und dann hast du es nie wieder versucht?“
Mein Vater guckt weg.
„Mommi … warum hast du mir nie von ihm erzählt? Du wusstest das doch auch alles?“
Sie nimmt mich in den Arm. „Wir hatten uns geeinigt, dass wir deine kanadische Familie nicht von uns aus ansprechen, sondern nur, wenn du davon anfängst. Und natürlich habe ich geglaubt, er hätte es dir längst gesagt.“
Ich mache mich aus ihrem Arm los. Das halte ich jetzt nicht aus.
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