Cokkos Pläne sahen so aus, dass er die frühe Fähre erwischt und in Harlingen den Zug nach Amsterdam, wo er nach Schiphol umsteigen und dann dort in den ersten Flieger in Richtung Kanada steigen wollte. Tante O hat das anders gesehen. Natürlich hat sie sich durchgesetzt. Unter anderem mit dem Argument: Wenn du um die halbe Welt reisen willst, brauchst du ein gutes Frühstück.
Um kurz nach eins löst mein Bruder ein Ticket für den Katamaran. Es ist nicht viel los am Pier. Das Schiffspersonal will die Leinen losmachen und den Steg einholen, nur Cokko steht noch auf der stählernen Rampe. Jetzt zieht er mich zu sich, hält mich lange fest und streicht mir über den Kopf. „Bis bald“, sagt er und macht die paar Schritte aufs Schiff.
Und weg ist er.
Ich weiß nicht, wann ich mich zuletzt so verlassen gefühlt habe, wie ich da so am Pier stehe und dem kleiner werdenden Katamaran hinterher gucke.
Ich habe noch ein paar Urlaubstage, aber im Westen nähert sich ein Hoch, das morgen hier sein dürfte. Dann werde ich nach Hause segeln.
Tante O besteht übrigens darauf, dass wir sie zu Silvester besuchen kommen, und erstaunlicherweise hat sie es ausdrücklich als Besuch deklariert. Scheint so, dass ich langsam diesen „Hausfreund-Status“ erreiche und mit Ferdinand und Henk auf einer Stufe stehe (na ja, fast – vor allem was Ferdinand betrifft). Mal sehen, ob Cokko bis dahin wirklich wieder hier ist, ansonsten muss sie sich mit meiner alleinigen Anwesenheit zufrieden geben.
Er hat eine Ansichtskartenrückseite vollgeschrieben mit den verschiedenen Möglichkeiten, wie ich ihn erreichen kann. Die postalische Adresse natürlich, je eine Telefon-, Handy- und Faxnummer, die Adresse seiner Homepage, zwei verschiedene Emailadressen und drei Zahlenkombinationen, die zu Buchstabenkombinationen gehören, mit denen ich nichts anfangen kann. Ich habe ihm gesagt, dass ich keinen Computer habe, aber er hat gelacht und das Ganze für einen meiner Scherze gehalten.
Ich frage mich, warum alle Leute davon ausgehen, dass ich dauernd Witze mache!?
einunddreißigstes Kapitel
Nachdem ich zurück in Zuyderkerk bin, besuche ich als erste meine Mommi.
„Hallo mein Junge, da bist du ja wieder“, begrüßt sie mich in ihrer Küche, wo sie gerade dabei ist, das Abendessen vorzubereiten. „War es schön auf der Insel?“
Ich nicke, „Und stell dir vor! Ich war hier schon fast weggefahren, als – ach nein“, unterbreche ich mich selbst, „Das mit Cokko hatte ich dir ja in den Briefkasten gesteckt. Ja, und was ich dich fragen wollte: warum hat mir nie jemand was davon gesagt, dass es ihn gibt?“
Mommi atmet tief ein.
„Offenbar haben es ja alle gewusst, sogar Marjorie“, lege ich nach. „Findet ihr nicht, dass es mich was angeht, wie viele Geschwister ich habe?“
Sie atmet aus. „Jeremy, Junge … versprichst du mir was?“
„Ja … was denn?“
„Könntest du den heutigen Abend bitte ohne Geschrei und Türenschlagen beenden?“
Ich merke, wie in mir etwas zu brodeln beginnt, nicke aber.
Früher, so zwischen meinem dritten und ungefähr dem dreizehnten Lebensjahr habe ich viele Wutausbrüche gehabt, weil ich nicht mit meinen Emotionen umgehen konnte. Vor dem Hintergrund meiner schwierigen familiären Situation – und dem Vater, der vermutlich dieselben Defizite hat – ist das wohl nicht weiter verwunderlich. Mein Ausweg daraus waren viele Sitzungen beim Kinderpsychologen und Bewegung. Viel Bewegung, und zwar sowohl beim Sport als auch beim Musikunterricht. Marjorie ist damals auf die Idee gekommen, dass Gitarrespielen zwar Spaß macht, in der Situation aber nicht hilft und hat mir Schlagzeugunterricht ermöglicht. Die Gute.
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