4. Juli 2015

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Nach geraumer Zeit kreuzt er wieder im Wohnzimmer auf.
„Und, was sagt er zu deinen Plänen?“
„Ich soll sofort nach Hause kommen.“
Ist das alles?!
Prüfend sehe ich meinen Bruder an, aber der verzieht keine Miene.
„Ähm“, fange ich an, da prustet er los: „Er sagt, wenn ich ganz schnell heimkomme, kann ich auch ziemlich schnell auswandern. Er findet die Idee gut, sagt er. Mann, ich bin total erleichtert. Ich dachte ja, er wäre dagegen, weil er dann ganz alleine ist, aber er sagt, ich soll endlich anfangen, mein Leben zu machen. Und er will uns dann auch besuchen kommen … nächstes Jahr … und dich kennen lernen und gucken, wie wir wohnen und so … und er sagt, wenn ich mich beeile, kann ich vielleicht schon zum Jahreswechsel wieder hier sein. Weihnachten will er mich nämlich noch da haben, sagt er.“
„Puh“, mache ich.
Cokko guckt, als würde er noch etwas sagen wollen, aber in dem Moment geht die Tür auf und Tante O steht im Raum. „Hallo ihr beiden. Habt ihr schon zu Abend gegessen?“
Zugleich verneinen wir und sie nickt, als hätte sie sich das schon gedacht. „Dann mach ich uns was, das geht schnell. Jeremy, könntest du bitte den Tisch decken?“
Beim Essen mustere ich unsere Wirtin verstohlen. Ich bin mir unschlüssig, ob ich sie zum Ergebnis meiner heutigen Beziehungsdienste ansprechen soll und entscheide mich schließlich dagegen. Sie wirkt jedenfalls recht entspannt und nicht mehr so wütend wie heute früh oder gar gestern. Wahrscheinlich werde ich irgendwann mitbekommen, was aus der Sache wird.

Cokko liegt schon im Bett, als ich aus dem Bad komme und es mir auf der Liege gemütlich mache. „Ich habe mir gedacht, ich fahre morgen mit der Fähre zurück aufs Festland. Das wird mir ja sowieso besser bekommen, außerdem geht es schneller und du bist dann nicht so unter Druck. Und dann bin ich ungefähr übermorgen zuhause. Was hältst du davon?“
„Na ja … das ist ja ziemlich plötzlich.“
„Aber das hatte Pa ja gesagt: wenn ich schneller zu ihm zurück komme, kann ich schneller mit auswandern anfangen.“
„Trotzdem ist es plötzlich“, beharre ich. Dann fällt mir auf, dass es mir ja auch zugute kommt, weil er nämlich schnell wieder hier ist. „Sag mal, Cokko, hast du eigentlich–“
„Stopp, stopp, stopp“, unterbricht er mich, „Wie hast du mich da gerade genannt?“
„Cokko“, wiederhole ich, was mittlerweile ganz normal für mich geworden ist.
„Was soll das sein? Ich bin doch kein Papagei!“
Erstaunt frage ich: „Wieso – was hat denn das mit einem Papagei zu tun?“
„Papageien heißen so!“, er redet, dass es wie so ein bunter Vogel klingt, „Lori, Lori!“
„Der Papagei würde Coco heißen. Langes Co, langes co. Ich nenne dich Cokko. Kurzes Cok, etwas längeres ko. Das ist kein Papageienname, sondern mein Spitzname für meinen Bruder. Deine Freunde können dich ruhig Corn, Corny oder Nelly nennen. Ich hab mir was eigenes ausgedacht.“
„Ja, so hört sich das an.“
„Ist es schlimm? Magst du es nicht? Willst du Corn, Corny oder Nelly heißen? Dann such ich mir davon einen aus.“
„Nein … ich muss mich nur erst dran gewöhnen. Red weiter, du hattest gerade irgendwas sagen wollen.“
Ja, daran erinnere ich mich dunkel. Aber was? Mir fällt nicht mal mehr der Satzanfang ein, geschweige denn sein Ende. „Wenn es wichtig war, wird es wiederkommen“, mutmaße ich. „Jedenfalls bin ich froh, dass du dann bald zurück bist.“
„Aha, jetzt kommt die Stelle, an der wir uns gegenseitig Ehrlichkeiten sagen“, grinst er.
„Ist das schlimm? Ich hab eine für dich: Ich bin echt froh drüber, endlich mal einen Bruder zu haben, mit dem ich mich gut verstehe. Das kleine ABC ist einfach zu jung für so etwas.“
„Danke. Dann sag ich dir auch eine“, holt er aus, „Dass ich mich auf den Weg gemacht habe, um dich zu finden, war eine saugute Entscheidung. Vielleicht war es sogar die beste in meinem Leben. Ich bin echt froh, dass ich los gegangen bin.“

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