5. Juli 2015

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„Woher kannst du ungefähr hundert mazedonische Wörter?“, will ich verwundert wissen. Es scheint keine Sprache zu geben, die er nicht kann.
Das Sprachengenie lacht mich aus. „Glaubst du eigentlich, dass in Kanada nur Kanadier wohnen? Mensch, das ist ein Einwanderungsland!“
Ich mag es nicht, wenn er mich so auslacht. Ich kann doch nicht alles wissen! Dabei fällt mir etwas ein: „Und außerdem, was helfen dir ungefähr hundert mazedonische Wörter? Miloš kommt doch aus Serbien. Und wo ist eigentlich dieses Mazedonien?“ Von einem Land dieses Namens hab ich irgendwann mal gehört; Südeuropa, würde ich spontan sagen, aber am Mittelmeer ist es nicht.
Ohne sich über mich lustig zu machen, erklärt Miloš: „Mazedonia war früher Teil von Jugoslawien, so wie Bosnien-Herzegowina und andere Länder in Balkan. Sprachen sind sehr ähnlich. Viele Wörter sind gleich bis auf kleine Aussprache und Schreibweise. Aber es ist falsch, ich komme nicht aus Serbien, sondern Bosnien.“
Er beharrt immerzu auf diesem Unterschied – erklärt hat er ihn noch nie.


vierundvierzigstes Kapitel

Der einarmige Alltag ist eine ausgezeichnete Sache, wenn man sich in Geduld üben möchte. Ich bin allerdings seit meiner Geburt ein ziemlicher Rappelzappel, sodass ich mit Geduld nicht viel im Sinn habe. Stattdessen werde ich eher ungeduldiger, je länger meine Einarmigkeit dauert und gehe damit allen Menschen meines Umfeldes auf die Nerven.
Alles, was ich anfange, dauert ungefähr doppelt so lang wie sonst, ganz egal, ob ich mich anziehen will, mir etwas zu Essen mache oder sonst irgendwas vorhabe.
Meine Persönlichkeit kehrt sich ins Gegenteil, das heißt, wo ich früher geduldig und freundlich gewesen bin, raste ich immer öfter aus. Sachen fliegen durch die Gegend und meine Freunde müssen sich zum Teil wüste Beschimpfungen anhören. Bei meinem ersten Armbruch muss das ähnlich gewesen sein, aber ich habe völlig verdrängt, ob ich da auch so sozial unverträglich gewesen bin.
Das geht so weit, dass Pieter mir die Freundschaft kündigt. Er lässt es mir zwar offen, mich zu entschuldigen, aber das sehe ich natürlich überhaupt nicht ein.

Die Wochen verstreichen langsam, denn ich habe Schulverbot. Zuerst wollte ich dort wie gewohnt aufkreuzen, seit ich wieder sicher auf den Beinen bin, aber Andjo hat das anders gesehen. Frühestens Mitte März will sie mich in die Personalplanungen einbeziehen, hat sie gesagt, und dann mindestens vier Wochen nur halbtags. (62) Also lungere ich die meiste Zeit bei Mommi herum, weil ja alle anderen arbeiten sind und mir ständig langweilig ist.
Doch die Langeweile ist beinahe das kleinste Problem. Selbst die Affen im Zoo kann man irgendwie beschäftigen. Schlimmer ist, dass ich langsam aber sicher in einen bitteren Zynismus verfalle. An manchen Tagen klappt es mit der Beherrschung einigermaßen, an anderen gelingt mir nichts und dann kann ich mich auch nicht zusammenreißen.
Wenn ich die Wahl hätte, würde ich keine Minute mehr als unbedingt nötig mit mir verbringen. Leider habe ich keine Wahl.

Mommi erträgt mich mit bewundernswerter Geduld, aber alles lässt sie auch nicht mit sich machen. Als ich einen Tag lang besonders unausstehlich bin, kassiere ich die erste Ohrfeige seit ungefähr zwanzig Jahren.
Im Gegensatz zu dem Streit mit Pieter entschuldige ich mich umgehend. Auch Mommi tut es Leid, und sie betet mit mir, dass es mir bald besser geht, nicht nur am Arm, sondern auch im Herzen.

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