Jetzt schlägt’s aber bald dreizehn. Erst behauptet er, ich würde im Kindergarten arbeiten, jetzt spiele ich den ganzen Tag! Na warte! Aber bevor ich mich so richtig aufregen kann, sagt Anno altklug: „Cokko, du musst noch viel lernen über unser schönes Land. Was du für einen Kindergarten hältst, ist eine straff durchorganisierte Kaderschmiede für die Wissenschaftler der Zukunft. In Deutschland gibt es noch Kindergärten, und da wird dann auch gespielt, aber bei uns und wahrscheinlich auch im Rest von Westeuropa suchst du so einen Hort der Gemütlichkeit vergebens. Die Kinder lernen schon mit sechs die erste Fremdsprache, bei uns ist das natürlich englisch, und können die zweite Fremdsprache dann selber aussuchen. Natürlich wird auch ein bisschen gespielt, aber das ist mehr zur Entspannung der Kinder, denn so ein kleiner Kopf braucht eben auch Pausen in der Konzentration.“
„Und woher weißt du das alles?“, fragt Cokko nun erstaunt. „Willst du später Lehrer für Wasserwirtschaft werden?“
„Nein. Ieuwkjes Vorgängerin war Lehrerin. Sie hat sich ausgiebig mit den Schulsystemen anderer Länder befasst. Na ja, und wie ich so bin, ist da auch was bei mir hängen geblieben. Ich finde, man sollte immer zuhören, wenn einem einer was beibringen könnte.“
Ach, deswegen war Ieuwkje so genervt, als Anno im Wellenbad über sein Studium sprechen wollte! Offenbar sie ist diese unangeforderten Lehreinheiten schon gründlich leid!
Auch an unserem letzten Urlaubstag sind Cokko und ich mit von der Partie, als sich die Spazierkarawane um halb drei in West an der Mole sammelt.
Gestern sind wir Richtung Vaarder aufgebrochen, aber heute lässt man das besser sein. Auf der weiten Ebene treibt einem ein scharfer Wind Sand und die Tränen in die Augen. Deswegen entscheiden wir uns, in die Dünen zu gehen (da pfeift es nicht so).
Ansonsten ist aber alles genau wie gestern. Anno redet mit Cokko übers Studieren, Ieuwkje redet mit Alison über Mode und andere Sachen und – ach nein, eins hat sich seit gestern geändert: Elias bemüht sich nicht mehr einfach so um Cora, sondern sie hat sein Werben erhört. Jedenfalls schiebt er jetzt den Kinderwagen, den sie vorher nicht aus der Hand gegeben hat. Und er sieht dabei total affig aus.
Ziemlich bald sind wir auf dem Rückweg zur Stadt, denn auch zwischen den windgeschützten Dünen ist es lausig kalt. Man sollte es nicht für möglich halten: hier geht es steil bergab. (57) Die mit Wald bedeckten Dünen hinter West sind der höchste (und älteste) Teil der Insel, ein Klumpen Eiszeitlehm bildet das Fundament. Die anderen Watteninseln sind alle auf Sand gebaut.
Bei einem Hotel am Waldrand sind ein paar Holzbuden aufgebaut und es gibt das deutsche Getränk zu kaufen: Glühwein. Keine Ahnung, wer sich das ausgedacht hat; ich könnte mir vorstellen, dass die Deutschen, die hier urlauben, nach ihren ganzen Weihnachtsmärkten genug von dem Gesöff haben.
Anno hat noch nicht genug und empfiehlt Cokko, die Spezialität zu kosten, deswegen bestellt auch Ieuwkje einen Becher und Cora will ebenso was Heißes.
Plötzlich schreit sie auf. „Lioba! Oh Gott, nein! Lioba!!“
Der Kinderwagen rollt mit zunehmender Geschwindigkeit die Straße herab.
Und sie hat keine Chance, ihr Kind zu retten, denn sie ist zu langsam.
Die Straße hat weiter unten eine Kurve.
Der Wagen wird immer schneller.
Er wird in der Kurve gegen eins der Häuser krachen.
Ein Alptraum.
Meine Gedanken ticken in Zeitlupe, aber meine Füße sind längst unterwegs. Ich renne hinter dem Wagen her, bekomme den Griff beinahe zu fassen, rutsche auf etwas aus und stürze lang hin. Im Fallen kann ich eine Querstange unterm Wagen packen, und auch wenn es mir fast die Hand abreißt, bin ich grenzenlos erleichtert: Ich habe es in allerletzter Sekunde geschafft, Lioba vor dem Unglück zu retten.
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