4. Juli 2015

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In diesem Moment kommt Ieuwkje herein und schreit wie gestochen los: „Da ist er ja endlich!“ Sie stürmt um den Tisch herum auf meinen Bruder zu. „Hallo Cornelius!“
Cokko guckt verdattert. „Hallo“, sagt er, „und wer sind Sie?“ Dann fragt er weiter: „Und woher wissen Sie, wie ich heiße?“
Jetzt guckt auch Ieuwkje verdattert. Anscheinend ist sie davon ausgegangen, dass sie in meinen Erzählungen ebenso präsent ist wie (so vermute ich) Cokko in denen von Anno, Tante O und den anderen, die wir im Herbst hier getroffen haben. „Also, ich bin nicht Sie, sondern Ieuwkje, und ich weiß, wer du bist, weil ich schon viel von dir gehört hab.“
„Aha“, macht er mit skeptischem Gesichtsausdruck. „Hoffentlich nicht nur die ganzen schlimmen Sachen.“
„Ich weiß nicht, ob das, was sie erzählt haben, in deinen Augen schlecht ist, für mich klang es ganz gut“, sagt Ieuwkje lachend und setzt sich uns gegenüber an die Längsseite des Küchen­tisches. „Tante O hat sich vor Begeisterung fast überschlagen, und mein Freund Anno redet immer noch von einem Witz mit verrückten Deutschen und Klonen und so.“
Cokko schließt sich ihrem Lachen an, „Dann ist es ja gut. Ich dachte schon, ich müsste bei dir erst gegen den Ruf von meinem alten Bruder anstinken.“
„Na komm, so alt ist er auch nicht“, flachst Ieuwkje zurück, und ich habe mal wieder Gele­genheit zu beobachten, wie schnell mein Bruder mit völlig wildfremden Leuten ins Gespräch kommt. Wie macht er das bloß? Bis ich mich mal mehr als drei Smalltalk-Sätze lang am Stück mit Ieuwkje unterhalten habe, hat es Monate gedauert!
„Ach ja, übrigens, bevor ich es vergesse“, sagt sie, „Anno hat am zweiten Januar Geburts­tag, und er feiert rein. Also ist übermorgen große Fete bei ihm, und ich soll euch sagen, dass ihr herzlich eingeladen seid.“
„Toll“, mache ich erfreut, denn ich war schon mal auf einer Party von Ieuwkjes Freunden. Da geht die Post ab. Im Gegensatz zu früher macht es mir auch nichts mehr aus, die meisten Leute nicht zu kennen. Als ich noch mit Helena zusammen war, war ich schüchterner.
Vielleicht, fällt mir bei dem Gedanken unvermittelt auf, hatte ich es deswegen schwerer, mit den Insulanern warm zu werden? Cokko hat nämlich, wie jeder sehen kann, überhaupt keine Probleme damit.


neununddreißigstes Kapitel

Es ist ziemlich ungemütlich auf der Insel und weil uns am nächsten Vormittag (es ist der letzte des Jahres) weder nach Spaziergängen zu zweit am Strand noch nach zweisamem Stubenhocken zumute ist, fahren wir mit dem Bus nach Westerdorp und gehen ins Wellenbad. Da ist es immerhin warm. Erst nach etwas mehr als einer Stunde begegnen wir in der Dampf­grotte Boje, Anno und Ieuwkje, und bei ihnen ist eine mir unbekannte junge Frau.
Da wir nun schon aufgestöbert worden sind, beschließen wir, uns gesellschaftlich zu geben und setzen uns dazu. Cokko findet Platz neben Ieuwkje, ich zwänge mich zwischen Anno und Boje auf die Bank. Die Unbekannte hat sehr langes, dunkles Haar und dunkle Augen und eine tolle Figur, was ich recht gut erkennen kann, denn ich sitze ihr genau gegenüber. Sie unterhält sich eifrig mit Anno, aber Ieuwkje scheint gar nicht eifersüchtig zu sein.
Soweit ich sie kenne, ist sie durchaus bereit, ihren Aktuellen mit Zähnen und Krallen zu verteidigen – selbst wenn der gar nicht verteidigt werden will. Ieuwkje jedoch hört zu und streut ab und zu einen Kommentar in die Unterhaltung ein. Wer mag diese Schönheit sein?
Als hätte Anno meine Frage bemerkt, stellt er uns einander vor: „Übrigens, das ist meine Kusine Alison aus Almelo. Sie ist seit dem zwanzigsten bei uns zu Besuch. Und das sind Jeremy und Cornelius.“
„Die wohnen bei uns“, erklärt Ieuwkje ihr, und wendet sich dann an mich: „Warum habt ihr nicht gesagt, dass ihr hierhin wolltet, dann hätten wir zusammen gehen können. Wir sind nämlich ungefähr zehn Minuten nach euch zuhause gestartet.“
„War mehr so ein spontaner Entschluss“, sage ich ausweichend.
„Verstehe“, sie lacht, „lass mich raten: Männergespräche.“
„Gut geraten“, sagt Cokko. „Um es präzise zu sagen, Brüdergespräche.“

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