4. Juli 2015

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„Im Herbst? Aber als wir uns getroffen haben, war er nicht dabei, oder?“
„Nee, da war er nicht mit. Wir sind im Oktober noch einmal hier gewesen.“
„Lern ich ihn noch kennen?“, will sie nun wissen.
Suchend gucke ich mich um, aber ich entdecke ihn nicht. „Er muss hier irgendwo sein. Wir sind uns äußerlich ziemlich ähnlich, von der Frisur abgesehen, vielleicht erkennst du ihn ja.“
In diesem Moment taucht er neben mir auf. „Du stehst ja immer noch hier rum. Wärst du eben auch hinten im Schiff gewesen, hätten wir einen prima Sitzplatz gekriegt.“
„Sitzen ist nicht alles“, kontere ich, „Warum bist du denn nicht da geblieben?“
„Weil ich da zufälligerweise keinen kenne und ich wollte nicht alleine rumsitzen. Ich hab mir schon gedacht, dass du hier hundert Leute kennst.“
„Nicht ganz hundert“, schränke ich ein, „Aber das hier zum Beispiel ist Cora. Cora, das ist mein Bruder Cornelius“, stelle ich die beiden vor.
Sie begrüßen sich und Cora sagt zu mir: „Was die Frisur betrifft, hast du ja ausnahmsweise wirklich nicht übertrieben.“
Jetzt winkt sie jemandem zu, ich folge ihrem Blick, kann aber im Gewimmel niemanden ausmachen, dem der Gruß gegolten haben könnte.
„Na ja, bestimmt sehen wir uns noch auf der Insel“, sagt sie zu uns, „Ich muss mal eben da rüber. Bis später dann!“ Zielstrebig schiebt sie sich, das Baby an ihre Brust gedrückt, durch die Massen und verschwindet in der Schiffscafeteria.
„Hast du unsere Sachen auch zu deinem fabelhaften Sitzplatz geschleppt?“, erkundige ich mich bei meinem Bruder.
„Ja. Hoffentlich sind sie jetzt nicht geklaut worden.“ Er schlängelt sich durch die Menge und ich folge ihm. „Du denkst einfach viel zu schlecht von uns Niederländern“, sehe ich mich genötigt, seine Sorge zu kommentieren. „Warum sollte hier einer unsere Sachen klauen?“
„Ich weiß“, macht Cokko, „Die Leute haben alle ihre eigenen Sachen. Tu mir einen Gefallen und fahr nie in eine Großstadt. Da wärst du sofort alles los.“
„Sag direkt, ich bin zu gutgläubig“, will ich ihm noch empfehlen, doch da erklingt – wie im­mer kurz vorm Anlegen – ein Dreiton-Gong durch die Lautsprecher. Die Überfahrt ist mir gar nicht so lang vorgekommen.
Dem Gong folgt knarrend und knirschend die Stimme des Kapitäns.
„Sehr verehrte Fahrgäste der Frieso-Line! Die Brabant wird in zehn Minuten den Westerdor­per Hafen erreichen. Wir bitten die Kraftfahrer, sich auf das Autodeck zu ihren Fahrzeugen zu begeben. Der Ausstieg für die Fußgänger befindet sich auf der linken Seite des Schiffes. Meine Crew und ich wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt auf der Insel. Wir freuen uns, Sie bald wieder auf einem unserer Schiffe begrüßen zu dürfen.“
In der Menge der Schiffspassagiere ist Cokko, der nun erst recht zu unseren Sachen will, schnell verschwunden. Ich will hinterher, aber da ich nicht weiß, wo er das Gepäck abgestellt hat, kann ich mir das Geschiebe eigentlich sparen. Ich bin noch nicht wieder am Eingang angekommen, als das Schiff schon anhält. Als gäbe es draußen etwas umsonst, ergießt sich die Menschenmenge auf den Anleger.
Ist Cokko noch auf dem Schiff? Wartet er draußen? Wenn nein, findet er alleine nach Dersum? Und wie soll ich alleine unser ganzes Gepäck dorthin bringen?
Ich freue mich schon jetzt auf das Frühjahr. Auf der Kaap Hoorn habe ich noch nie den Überblick verloren.


achtunddreißigstes Kapitel

Eine halbe Stunde später ist das ganze Chaos vergessen. Zusammen mit Tante O, die uns mit einem Bollerwagen für das Gepäck an der Bushaltestelle abgeholt hat, sitzen wir in der Küche und wärmen uns mit einer Tasse echt friesischen Tees auf. Außer Cokko, der trinkt Kaffee. Er sagt, dass er keinen Tee mag. Dabei bin ich sicher, dass er noch nie Friesen­tee getrunken hat.

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