4. Juli 2015

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„Vielleicht hat er eine Freundin gefunden und kommt nicht“, sagt Pieter.
„Hat er nicht, das hätte er mir gesagt.“
„Oder ihm ist eingefallen, dass ein Kumpel Geburtstag hat, wollte noch gratulieren und hat den späteren Flug genommen.“
„Sicher“, reagiere ich angeblich gelassen. Ich wünschte, er würde damit aufhören. Seit die planmäßige Landezeit um mittlerweile zehn Minuten überschritten worden ist, fallen Pieter tausend Gründe ein, warum mein Bruder nicht kommen könnte.
„Oder er hat sich gestern reichlich von seinen Kumpels verabschiedet und deswegen heute früh verpennt, weil er seinen Kater nicht losgeworden ist.“
„Oder er hört von dem ganzen Unsinn, den du erzählst, und er überlegt es sich noch mal, ob er wirklich aussteigen soll!“, fahre ich ihn an. „Warte hier, ich komme gleich wieder.“
„Viel Erfolg“, lacht er, doch ich beachte ihn nicht weiter. Bevor wir hierher los gefahren sind, hat Pieter mich mit Espresso und Powerdrinks abgefüllt, weil ich so zappelig war. Angeb­lich wirken die beruhigend, wenn man schon unruhig ist. Jetzt meldet sich alle paar Minuten meine Blase. Pieter findet das natürlich sehr komisch. Ich sollte wie ein Hund gegen die Säulen pinkeln, hat er mir vor dem letzten Klogang empfohlen, dann könnte ich den ganzen Flughafen als mein Revier markieren. Haha, selten so gelacht.

Als ich zurück in die Ankunftshalle komme, ist schon alles Wichtige gelaufen. Pieter und mein Bruder stehen einträchtig nebeneinander und unterhalten sich, vermutlich geht es um Flugzeuge oder anderen Technikkram. Ich schleiche mich von hinten an und sage den beiden über die Schulter: „Hat hier jemand einen Kanadier gesehen?“
Mit einem Schrei fährt Cokko zu mir herum und reißt mich fast von den Füßen. Er packt mich bei den Armen und tanzt mit mir durch die Ankunftshalle. Andere Reisende, denen wir in die Quere kommen, bringen sich teils ärgerlich, teils lachend in Sicherheit.
„Na, was sagst du jetzt?“, fragt er, als wir wieder bei Pieter ankommen.
„Ich sage nichts, denn ich bin baff“, gestehe ich außer Atem. Mit einem so stürmischen Empfang – stürmisches Wetter hin oder her – habe ich nicht gerechnet, mein Bruder ist ja sonst eher cool. Ob er die Tanzeinlage extra für mich in sein Repertoire aufgenommen hat?

Bis das Essen fertig ist, richten die beiden freundlicherweise schon das zweite Bett her und räumen ein paar der Sachen aus, die Cokko nicht auf Dersummeroog brauchen wird.

Gleich nach dem Essen verabschiedet Pieter sich, denn mein weitgereister Bruder ist ziemlich fertig und gähnt nur noch rum. „Kann ich morgen zum Frühstück kommen?“, fällt ihm ein, als er schon fast aus der Wohnungstür ist.
Cokko sagt: „Ja.“
„Ich glaube nicht, dass es hier morgen Frühstück geben wird“, vermute ich. „Komm zum Mittagessen. Oder ein bisschen früher, dann können wir zusammen kochen.“
„Okay. Gute Nacht.“
„Dir auch“, erwidere ich; Cokko kann gerade nichts sagen, weil er wieder einmal gähnt.
Danach wird es sehr schnell sehr still in meiner Wohnung.

Am nächsten Tag gestatte ich meinem Bruder auszuschlafen, denn so wird er seinen Jetlag leichter los. Ich hingegen bin schon recht früh auf, weil Sonntag ist und das Programm meiner Kirche einen besonderen Gottesdienst verheißt.
Geistig gestärkt wieder zuhause angekommen bewege ich mich auf Zehenspitzen durch die Zimmer, besorgt darauf bedacht, nur kein Geräusch zu machen, das ihn wecken könnte.
Erst als Pieter kommt, hat diese Ruhe ein Ende. Ich mache Kaffee, und wir lassen uns das Essen vorbereitend in der Küche nieder, ohne uns noch Mühe zu geben, leise zu sein.
Das zeigt bald seine Wirkung, denn nicht allzu lang nach Pieters Eintreffen findet sich mein verschlafener Bruder im Küchentürrahmen ein. „Tag zusammen“, sagt er. Er trägt eine Shorts mit roten Ahornblättern und ein T-Shirt einer Highschool. Alles sieht reichlich zerknittert aus – er selber eingeschlossen.

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