30. Juni 2015

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„Jahrelang ist er sich unsicher gewesen, ob er sich trauen soll, dich anzusprechen und dir seine Liebe zu gestehen, oder ob er damit einen Korb riskiert und dann nicht mehr hier willkommen sein wird. Er hat viel Zeit verstreichen lassen und auf einmal ist ihm aufgegangen, dass er nicht ewig leben wird und du auch nicht. Da hat er sich entschlossen, Nägel mit Köpfen zu machen. Und wie er so ist, hat er in seinem Überschwang die falschen Worte erwischt und jetzt denkst du, er will dich bloß ausnutzen, weil deine Küche besser sortiert ist als seine. Und er versteht nicht, was er denn falsch gemacht hat, schließlich hat er die selben Worte verwendet, die er dir sonst auch immer gesagt hat, und da bist du nie böse auf ihn gewesen. Aber dieses Mal hat er einen Satz gesagt, den er sonst nicht gesagt hat und auf einmal ist alles anders. Und der arme Kerl begreift es nicht.“
Tante O guckt mich eine Weile schweigend an, dann steht sie auf. „Werd mal mit dem Frühstück fertig“, sagt sie.
Ich lasse mich nicht abwimmeln. „Red mit ihm“, sage ich. „Dein Argument „in meinem Alter“ zieht nicht. Und es ist egal, was die Leute sagen. Es geht um dich und um ihn.“
„Ich wette, dass du nicht mal die Hälfte von deinen Weisheiten für dein eigenes Leben anwenden kannst.“
„Ich habs dir nur als Mann übersetzt“, sage ich und unterbreche ihr zuliebe mein Früh­stück. Gleich, wenn Cokko aufsteht, esse ich weiter.

Ich verziehe mich ins Wohnzimmer und höre Tante O in der Küche hantieren. Es klingt, als klappere sie übertrieben laut mit dem Geschirr, das sie aus der Spülmaschine holt und in die Schränke räumt.
Mit einem Mal gibt es ein lautes Klirren und eh’ ich drüber nachgedacht habe, bin ich schon aufgesprungen und in die Küche gelaufen.
Tante O steht da, mit einem halben Teller in der Hand, die andere Hälfte liegt zersplittert auf den Fliesen. Sie starrt mich an und sieht aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.
Au weia, das hab ich jetzt davon, denke ich und weiß ausnahmsweise mal nicht, was ich tun soll. Dann nehme ich ihr aber den kaputten Teller aus der Hand und lege ihn weg. Ich will sie in den Arm nehmen, aber sie wehrt ab. „Geh jetzt bitte. Lass mich in Ruhe“, sagt sie mit bemüht fester Stimme.
Stattdessen frage ich: „Soll ich ihn herholen?“
„Du weißt doch gar nicht, wer es ist.“
„Doch. Ferdinand.“
Sie erschrickt. „Ist es so offensichtlich? Redet man über mich?“
„Kann ich mir nicht vorstellen. Aber als du das vorhin gesagt hast, war mir alles klar.“ Ich hole tief Luft und biete noch einmal an: „Ich setz mich ins Auto und hol ihn her. Oder soll ich dich hinfahren? Was willst du lieber? Cokko wird nicht verhungern, bloß weil du ihm keinen Schinken brätst. Das krieg ich auch hin.“
Sie seufzt. „Ich bin so froh, dass du weißt, wie man mit alten Tanten wie mir umgeht. Du bist wirklich ein guter Junge. Deine Mommi kann stolz auf dich sein.“
Rasanter kann ein Rollenwechsel nicht vollzogen werden. Eben war ich noch ein Mann, der ihr einen anderen Mann erklärt, jetzt bin ich der kleine Junge. Aber was soll’s?

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