30. Juni 2015

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Ich bin fast schon wieder eingeschlafen, als er weiter redet: „Das ist nämlich so … Ich weiß nicht, wie das mit dir ist, aber ich … ich find dich echt toll. Ich wollte immer einen großen Bruder haben. Nicht irgendeinen, sondern einen wie dich. Aber … wie das so ist, für die älteren Geschwister ist es meist zu spät, wenn man dann schon da ist. Deswegen glaub ich, dass du ein echter Glücksfall für mich bist.“


siebenundzwanzigstes Kapitel

Am nächsten Tag reden wir über fast alles, aber nicht über das, was uns wohl beide am meisten bewegt.
Mittags sitzen wir im „Bistro am Fährpier“, das heute keinen Ruhetag hat (was es von allen anderen Restaurants hier am Hafen unterscheidet), und essen und schauen dabei auf die ankommenden und ablegenden Schiffe.
Ich kann das noch nicht ganz erfassen, was Cornelius gestern zu mir gesagt hat. Er möchte mich zum Freund haben. Meine bisherigen Freunde habe ich mir nicht ausgesucht – das heißt, natürlich habe ich sie mir ausgesucht, aber wir hatten vorher schon eine lange gemeinsame Zeit und irgendwann waren wir dann halt Freunde. Pieter und ich zum Beispiel waren früher Nachbarsjungen und haben immer zusammen gespielt und als wir in die Schule kamen, saßen wir an einem Tisch und waren Freunde. Aber keiner von uns ist in der Lage zu sagen, wann unsere Freundschaft angefangen hat.
Ich habe noch nie so einen förmlichen Freundschaftsantrag bekommen.
Und jetzt weiß ich nicht, ob Cornelius auch so einen von mir erwartet oder was ich tun soll.

„Du“, fängt er an, nachdem wir mit dem Essen fertig sind, „wenn du wieder nach Hause fährst, kann ich dann noch bei dir wohnen bleiben?“
„Klar“, sage ich.
„Ich meine, dein Urlaub geht ja auch nicht ewig, aber wenn ich die ganze Zeit im Hotel wohne, wird das ein bisschen teuer.“
„Das ist überhaupt kein Problem. Es ist genügend Platz und eine zweite Matratze kann ich schnell auftreiben.“
„Und wenn du das nächste Mal Urlaub hast, kommst du mich dann auch besuchen?“
Diese Frage habe ich befürchtet. Wie soll ich ihm klar machen, dass das nicht geht – ohne ihn zu enttäuschen? Denn enttäuscht wäre er, wenn ich einfach absage, soviel ist klar. Er steckt schon in diese Frage alle seine Erwartungen, die Freude, mir seine Welt zu zeigen und die Spannung, wie ich wohl auf alles reagieren werde.
Die Pause anstelle der Antwort ist ihm genug, man sieht es ihm an.
Wenn ich nicht will, dass die Beziehung, die zwischen uns entsteht, gleich in ihrem zarten Anfangsstadium den ersten Knacks kriegt, muss ich mir etwas einfallen lassen. Gott meldet sich jetzt auch zu Wort: Wie wär’s, wenn du ihm einfach die Wahrheit sagst?, fragt er.
„Du, Cornelius … ähm“, fange ich an, und denke auf einmal: Er hat Recht, sein Name ist wirklich zu lang, um ihn mit seinen ganzen Buchstaben ständig aufzusagen. Aber wenn ich jetzt einfach so anfange, ihn Corn, Corny oder Nelly zu nennen, klingt das komisch, dafür habe ich ihn bisher zu hartnäckig mit dem kompletten Namen angesprochen. Außerdem, ganz ehrlich – sie gefallen mir nicht. Ich könnte mir etwas Neues ausdenken. Cokko zum Beispiel. Erst mal werde ich ihn in Gedanken so nennen, damit ich mich dran gewöhnen kann. Mal sehen, was er davon hält.
Mein Bruder guckt mich komisch von der Seite an, weil ich mir zuviel Zeit lasse zum Denken. Also rede ich lieber mal weiter: „Versteh das bitte nicht falsch“, beginne ich von vorne, und weil ich merke, dass es sich wie eine billige Ausrede anhört, setze gleich noch einmal an: „Ich kann dich nicht besuchen kommen. Das liegt aber nicht an dir, denk das bitte nicht. Es ist nur … Schiffsreisen bis nach Amerika sind viel zu teuer. So viel Geld hab ich einfach nicht.“
„Schiffsreisen?!“, fragt er, als zweifle er an seinem Gehör.
„Ja“, sage ich. „Ich kann in kein Flugzeug steigen.“
Entsetzt guckt er mich an, „Kriegst du etwa auch Thrombosen?!“
Mindestens ebenso entsetzt gucke ich zurück: „Ist das erblich?!“

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