30. Juni 2015

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„Pa ist im Qualitätsmanagement einer Firma, die Kurbelwellen, Kolben und Zylinder für Landmaschinen herstellt.“
„Aha, bestimmt ist das John Deere“, versuche ich mal etwas Kluges von mir zu geben.
„Wie kommst du darauf?“
„John Deere ist doch eine amerikanische Firma?“
Er verdreht die Augen. „Ja, und wir sind Kanadier, haben also mit einer US-amerikanischen Firma nichts zu tun. Außerdem ist MTS ein Zulieferbetrieb, der keine eigenen Fahrzeuge baut. Wärst du so freundlich, nicht immer Kanada und die USA in einen Topf zu werfen? Das nervt echt. Und jetzt setz dich hin, dann erklär ich dir, was ich mache.“
„Ähm“, fange ich an, „ich glaub … spar dir das. Wenn Pieter, das ist mein bester Freund, also wenn der mir was am Computer erklärt, kapier ich immer nur Bahnhof.“
Cornelius klickt herum und gibt Zahlen ein und klickt und wartet. Kurz darauf höre ich ein Tuten im Raum und dann eine Männerstimme kanadische Wörter sagen, die ich nicht verstehe. Mein Bruder antwortet etwas, wir hören ein bisschen Warteschleifenmusik (und werden auf englisch und französisch aufgefordert, bitte nicht aufzulegen) und dann eine andere Männerstimme. Das scheint sein Pa zu sein, denn auf einmal hat er Tränen in den Augen. Diskret verlasse ich den Raum. Wenn in Kanada sowieso erst abgeklärt werden muss, wann unser Telefonat stattfinden darf, kann Cornelius das sicher auch ohne mich regeln und dabei ein paar Worte zu seinem Vater sagen, die mich vielleicht nichts angehen oder die ich nicht hören soll.

Fünf Minuten später tritt Cornelius raus auf den Flur. „Kommst du bitte mit? Mein Pa möchte dich sehen.“
Das klingt, als sei er in Echt im Zimmer. Ich darf mich auf dem Bürostuhl niederlassen und mein Bruder nimmt den anderen Stuhl, den ich eben noch dazu geholt hatte.
„Hallo Jeremy“, erklingt es aus Calgary und dem Lautsprecher. Auf dem Monitor ist die obere Hälfte eines Mannes mit Bart und braunen Haaren zu sehen. Auffällig sind seine knallblauen Augen.
Eilig decke ich die Hand über das, was ich für das Mikrofon halte und frage leise: „Wie heißt er? Du hast mir seinen Namen nicht gesagt, ich kann doch nicht „Pa“ zu ihm sagen!“
Der Kanadier mit dem schottischen Nachnamen lacht und stellt sich vor: „Mein Name ist Douglas, oder sag Doug zu mir, das tun viele.“ Dann kommt er gleich aufs Thema zu sprechen: „Cornelius hat erzählt, dass ihr ein paar Schwierigkeiten wegen eurer Mutter habt. Wie kann ich euch da weiterhelfen?“
„Jeremy behauptet, dass Ma kein Interesse an ihm gehabt hätte–“
„Ich behaupte das nicht, sondern es ist so“, unterbreche ich.
„Ist es nicht!“
„Jungs, hört auf zu streiten“, sagt Douglas. „Jeremy, erklär du es mir. Und du, Cornelius, bist bitte still.“
„Also, ich sage, dass sie kein Interesse an mir gehabt hat, weil sie mich nie hier besucht hat. Und sie hätte mich mitnehmen können, als sie nach Kanada ausgewandert ist oder später irgendwann. Aber das hat sie nicht gemacht. Und Cornelius hat gesagt, dass er findet, dass ich auch mal einen Brief hätte schreiben können, wenn zum Beispiel Gerrit Fotos von mir geschickt hat, aber das ist so: ich wusste gar nicht, dass er das tut. Und ich wusste auch nicht, dass es Cornelius gibt. Wieso hätte ich da Briefe schreiben sollen? Deswegen denk ich, dass es keinen interessiert hat, was mit mir ist. Und deswegen nervt es mich, dass Cornelius die ganze Zeit von seiner tollen Mutter schwärmt, die für mich jedenfalls nie Zeit hatte.“
„Und du hast nie nachgefragt, wo deine Mutter ist?“, wundert Cornelius sich.
„Doch natürlich hab ich nachgefragt, aber dann hieß es, die ist in Kanada, und weiter nichts. Als kleines Kind hab ich geglaubt, Kanada ist ungefähr so weit weg wie der Mond, nur dass man das nachts nicht leuchten sieht.“
Douglas schmunzelt, wird aber schnell wieder ernst. „Ich kann das gar nicht glauben, dass dein Vater so gleichgültig mit dir umgegangen ist!“

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