30. Juni 2015

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Das Frühstück nehmen wir fünf Minuten lang gemeinsam ein, denn ich werde gerade fertig, als Cornelius die Treppe herunter kommt. Verschmitzt lachend fragt er: „Sag mal, was ist das, was du nachts so treibst? Hochleistungssport? Dauernd guckt mindestens ein Fuß raus, oder ein Arm, dann rutscht die Decke runter, dann sitzt du im Bett, als nächstes hast du die Füße unterm Kissen und den Kopf am Fußende, stehst auf und so weiter!“
Anscheinend hat er mich auch beim Schlafen beobachtet. Seit Kindertagen habe ich einen sehr bewegten Schlaf. Entgegen aller Prognosen hat sich das weder mit dem Beginn noch dem Ende der Pubertät gelegt.
„Es war einmal ein verzauberter Prinz, der musste die schöne Tochter der Königin aus den Fängen eines Untiers befreien. Jede Nacht kämpften der Prinz und das Ungeheuer miteinander, und wenn sie nicht gestorben sind, dann wohnen sie am Strand“, erzähle ich. Dieses Ultrakurz-Märchen habe ich mir gerade ausgedacht. Auch wenn es nicht klar aus meinen Ausführungen hervorgeht, habe ich die Rolle des Prinzen für mich eingeplant und nicht die des Untiers. „Wusstest du nicht, es gibt hier noch Drachen.“
„Klar. Winddrachen.“ Er lacht und tippt sich an die Stirn. „Und von welcher Königin soll diese schöne Tochter sein? Wo gibt’s denn überhaupt noch eine Königin, außer vielleicht bei den Disneys?“
Mein schöner Bruder hat zwar keine Ahnung von Gezeiten und den anderen Vorgängen an der Küste, das ist aber noch zu verzeihen. Doch dass er mit seiner doppelten Staatsangehörigkeit keinen blassen Schimmer von der Geschichte seines Mutterlandes hat, ist schon eine ganz andere Sache. „Hier. Du befindest dich gerade im Königreich der Niederlande.“
„Und ich dachte, ihr hättet eine Demokratie“, stellt er kopfschüttelnd fest und gießt sich ein Glas Milch ein.
„Die Niederlande sind ein demokratischer Staat mit konstitutioneller Monarchie“, lege ich los. „Das heißt, dass die Königin sich zwar in die Politik einmischen darf, wenn sie das für angebracht hält, aber sich trotzdem nach dem Ministerpräsidenten richten muss. Eigentlich ist das Königshaus mehr für repräsentative Zwecke da.“
„Ziemlich teuer, ein ganzes Königshaus, nur damit es schön aussieht.“
Das stimmt, teuer ist es. Aber ich bin ein Befürworter der Monarchie, deswegen lasse ich den Einwurf nicht gelten. „Du verstehst nichts davon, weil es in Amerika nach den Azteken keine Monarchie mehr gegeben hat. Hast du die Königin überhaupt schon mal gesehen?“
„Wohnt sie hier auf der Insel? Wenn nein, dann nicht. Ich habe noch nicht viel vom Land gesehen, falls du dich erinnerst.“ Spöttisch fügt er hinzu: „Du bist wahrscheinlich jeden Sonntag bei der Königin zum Kaffee eingeladen?“
„Nein. Ich hab aber mal mit einem der Prinzen gesprochen. Er hat die Pabo in Alkmaar besucht, als die–“
„Was ist das, Pabo?“, unterbricht er mich, „bestimmt eine Abkürzung, oder? Das ist echt das schlimmste, dass ihr Niederländer ständig mit den Abkürzungen um euch werft, als würdet ihr dafür bezahlt.“
Mir ist nicht bewusst, dass wir besonders viele Abkürzungen im Sprachgebrauch hätten, aber ich bin auch nicht der Richtige, um das zu beurteilen. Ich bin nicht in einem fremden Land. „Das ist die pedagogische academie basisonderwijs. Eine Hochschule speziell für Lehrer und Unterrichtshelfer“, liefere ich als Erklärung gleich mit. „Jedenfalls ist er gekommen, weil die Pabo Alkmaar damals ein neues Gebäude eröffnet hat. Und weil sie es nach dem Prinzen benannt haben, ist er natürlich zum Einweihen gekommen.“
„Aha“, macht mein Bruder, „Und warum hat er ausgerechnet mit dir geredet?“
Ich hebe die Schultern. „Weiß ich nicht. Da stand ein Riesenpulk von Leuten rum und er hat sich halt umgeguckt, mit wem er ein paar Worte wechseln will.“
„Ist er mit einem goldenen Hubschrauber gekommen? Und hatte er hundert Bodyguards dabei? Und warst du aufgeregt?“, lässt er jetzt Fragen am laufenden Band ab.

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