28. Juni 2015

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„Bei dem Wetter? Danke, ich war heute schon einmal nass“, lehnt Cornelius ab.
„Du kannst Ferdinands Ölzeug anziehen, er braucht es nicht, wenn er hier in der Stube sitzt“, beschließt Tante O.
„Genau, dann fahren wir nach West und ich zeig dir, warum es Springflut heißt.“
„Das gibt’s nicht in deiner Welt, dass mal einer dagegen ist, he?“, mosert er grinsend, steht aber auf und folgt mir aus dem Zimmer.

Kaum jemand ist unterwegs. So mag ich mein Dersummeroog. Wer nur im Sommer hier war, hat nichts vom Charakter der Insel begriffen.
Der Regen von heute Mittag ist weiter gezogen und nach ihm kam noch mehr Regen, aber dieser ist sanfter. Natürlich ist er nicht weniger durchdringend als sein Vorgänger, deswegen ist es gut, dass wir beide wetterfest angezogen sind.
Bei sanftem Regen gibt es oft sanften Wind, und das ist heute auch so.

„Und was willst du mir Tolles zeigen?“, fragt Cornelius ungeduldig, als wir in Westerdorp am Hafen angekommen sind.
Ich beachte seine Frage nicht. Manche Dinge kann man nicht erklären, sondern man muss sie sehen. Und wenn ich meinem Bruder erklären würde, was ihn erwartet – woher weiß ich, dass er sich vorstellt, was ich beschreibe und nicht etwas ganz anderes?
Wir fahren auf die Mole bis nach vorne unter die Lichtbake und ich sehe gleich, dass wir Glück haben mit Wetter und Gezeiten. Ich lehne mein Fahrrad an das Seezeichen und mein Bruder tut es mir nach.
„Da, guck“, fordere ich ihn auf und zeige raus aufs Wasser.
Die Springflut benimmt sich wie eine Bilderbuch-Springflut.
Die Wasseroberfläche ist dank des leichten Windes und des sanften Regens ruhig. Aber die Wellen der auflaufenden Flut! Die überrennen sich fast. Es sieht aus, als ob sich eine Horde kleiner Seeungeheuer um den ersten Platz auf der Insel balgt.
„Aha. Und was ist das Besondere daran?“
„Siehst du das denn nicht?“, wundere ich mich.
„Also, ich sehe Regen und Wind … im Vergleich zu heute Mittag wenig von beidem, und ich sehe links den Hafen und rechts das Wattenmeer. Was ist das Besondere, davon abgesehen, dass ich hier noch nie war?“
„Aber die Wellen! Sie machen alle kleine Buckel und hüpfen durcheinander!“
„Da ich keine Ahnung habe, wie es sonst aussieht, ist das nichts ungewöhnliches für mich“, gibt er zu bedenken.
Tja, da hat er Recht. „Dieses Phänomen gibt es nur bei Springflut“, versuche ich das Naturwunder zu erklären. „Das unterscheidet die Springflut von den anderen Hochwassertiden und deswegen heißt sie halt auch so. Weil sie springen.“
Cornelius hat mich belustigt betrachtet. „Du bist echt witzig, wenn du dich so aufregst.“
„Ich sehe schon, ich kann dich nicht begeistern. Fahren wir also zurück?“
„Wer zuerst da ist, hat gewonnen!“, ruft er und rennt zum Fahrrad.

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