28. Juni 2015

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„Sie hatten zu der Zeit Streit miteinander. Der erste Grund für diesen Streit sitzt neben dir, der zweite war, dass er Lucy kurz vor der Geburt geheiratet hat. Popp war dagegen. Deswegen hat Gerrit extra betont, dass er den älteren Willem meint.“
„Das hat bestimmt nicht dazu geführt, dass sie sich schneller wieder versöhnt haben.“
„Eher nicht.“

Meine Gedanken schweifen ab zu Popp.
Vor fast zweieinhalb Jahren ist er gestorben. Er hatte schon länger Herzprobleme gehabt und sein Arzt hatte ihm verboten, alleine zu segeln. Aber er hat es natürlich doch gemacht. Und dabei ist es dann eben passiert. Für ihn ist es sicher schön gewesen, auf dem Wasser zu sterben, aber für uns andere war es ein Schock. Vielleicht würde er noch leben, wenn rechtzeitig Hilfe da gewesen wäre.
Mommi und ich haben lange überlegt, ob wir die Kaap Hoorn verkaufen sollten. Zu viele Erinnerungen waren mit dem Schiff verknüpft. Aber schließlich haben wir es nicht getan, weil es nicht in Popps Sinn gewesen wäre. Er wollte ja, dass ich die Kaap Hoorn bekomme und sie eines Tages weitervererbe.

Cornelius ist auch in Gedanken gewesen, denn irgendwann sagt er: „Ma würde sich freuen, wenn sie uns jetzt so sehen könnte.“
„Vermisst du sie sehr?“
Er nickt.
Ich ziehe meinen Bruder (der im Moment nicht wie der coole 21-Jährige wirkt, dessen liebste Beschäftigung es zu sein scheint, mir die Glatze zu tätscheln) näher zu mir.
„Manchmal träume ich von ihr. Sie ist dann nicht wieder lebendig, sondern wir treffen uns im Himmel. Da ist es schön. Hell und warm und freundlich, es gibt keinen Streit, alle mögen sich und eine Band macht Musik, aber nicht so laut, dass es beim Reden stört. Pa hat gesagt, ich soll das nicht zu laut rum erzählen, sonst lande ich womöglich im Irrenhaus.“
Ich streichele ihm übers Haar. „So schlimm ist es nicht.“
Er tut mir Leid, denn es ist ein schwerer Schlag, jemanden Liebes zu verlieren, wenn man nicht damit rechnet oder nicht damit rechnen will. Wer rechnet schon mit dem Tod? Mommi hat mir damals erzählt, dass sie gestorben ist. Ich war ungefähr 22 oder 23 und es ist mir ziemlich gleichgültig gewesen. Jeden Tag sterben ziemlich viele Menschen auf der Welt, man kann nicht für jeden in Tränen ausbrechen.
Jetzt wünsche ich mir, Lucy besser gekannt zu haben, dass ich auch so um sie trauern könnte, wie mein Bruder es tut. Zugleich erhebt sich allerdings der alte Hass gegen sie. Warum hat sie mich damals sitzen gelassen? Wenn sie zu Cornelius so liebevoll gewesen ist, warum konnte sie das dann nicht mit mir genauso tun? Warum hat sie mich nicht geliebt, aber ihn? Warum hat sie sich nicht um mich gekümmert, war ich denn weniger ihr Kind als er? Wie in aller Welt konnte sie mir das antun?!? Bevor er kam, war es leichter für mich. Da war ich noch das einzige Kind dieser Frau.

„Lass uns nach Hause fahren“, sage ich irgendwann. Mit bitteren Fragen und Vorwürfen gegen eine Tote wird meine Kindheit nicht einfacher zu ertragen. Außerdem ist sie vorbei.

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