dreiundzwanzigstes Kapitel
Auf der Insel gibt es ein sonderbares Wetterphänomen. Manche Tage beginnen so nebelig, dass man kaum über die Straße gucken kann. Um zehn hebt sich der Nebel und um elf scheint die Sonne strahlend vom Himmel. Oder es schüttet morgens wie aus Kübeln und schon kurz nach elf kann man sich beruhigt ohne Regenzeug vor die Tür wagen. Ich habe das oft beobachtet und verschiedene meines Erachtens kompetente Leute dazu befragt, aber keiner konnte mir erklären, wie diese Wettergrenze zustande kommt und warum sie stets um elf über die Insel rauscht.
Natürlich gibt es das meteorologische Mysterium auch in umgekehrter Reihenfolge. Bei der Fortsetzung unserer gestrigen Tour beobachten wir, wie es kurz vor Mittag immer mehr zuzieht.
„Sagtest du nicht, dass es schön bleiben würde?“, deutet Cornelius an, als wir unter einem auf Stelzen stehenden Holzgebäude Schutz vor einem plötzlichen Regenschauer suchen. Im Sommer ist hier drin ein dicht belagertes Strandcafé gewesen; jetzt hat es leider zu.
„Ja, hab ich. Aber ich hatte mir das nicht ausgedacht. Wenn du dich beschweren willst, meld’ dich beim Wetterdienst“, rechtfertige ich mich.
„Und was machen wir, wenn es so bleibt?“
„Nass werden.“
„Nein, ich meine … du kannst doch bei so einem Wetter nicht segeln! Guck dir doch mal das Meer an!“ Er weist hinaus auf den Strand, wo sich die Wellen brechen.
„Es hat ja auch niemand gesagt, dass ich jetzt segeln werde. Wenn der Schauer vorbei gezogen ist, klart es wieder auf, du wirst schon sehen.“
„Und wenn es nicht aufklart?“
„Du meinst, wenn es ab jetzt immer schlechter wird, wovon man nicht ausgehen kann, weil das gegen alle Natur wäre und auch gegen alle Erfahrung, denn bei so schlechter Prognose wäre ich ja nie losgesegelt?“
Er nickt.
„Dann fahren wir mit der Fähre heim.“
„Und wenn die auch nicht mehr fährt?“
Lachend frage ich: „Du willst es ganz genau wissen, he? Wenn tatsächlich alle Wetter in diesem Herbst aufeinander treffen und die Fähre auch nicht mehr fährt, was also ab neun oder zehn Beaufort der Fall sein dürfte, dann bleiben wir auf der Insel, bis es besser wird. Denn das kannst du mir glauben, bei dem Wetter wird es nicht angenehmer auf See zu sein. Deine Übelkeit von der Hinfahrt war nämlich nicht besonders schlimm. Normalerweise kann ich Seekrankheit nicht so einfach wegreden, ich bin ja kein Zauberer“, gebe ich ein Stück der Wahrheit über meine Wundertabletten preis.
„Danke, mach mir Mut“, brummt Cornelius. Dann fällt ihm ein: „Was wird eigentlich deine Chefin sagen, wenn du nicht pünktlich zur Arbeit kommst? Es kann ja mal passieren, dass du nur das Wochenende frei hast, und nicht mehrere Tage … was macht sie dann?“
„Na ja, was soll sie machen?“, frage ich. „Bis jetzt ist so was noch nicht vorgekommen, aber sie würde nie sagen, dass ich trotzdem kommen muss. Sie weiß, dass das auch ganz schön in die Hose gehen kann.“ Bei dieser Formulierung überlege ich spontan, in welche Hose es gehen soll. Vermutlich bleibt nur eine, das ist die Windhose. Ich verschone meinen Bruder jedoch mit diesem Wortspiel.
„Was meinst du damit?“, will er wissen und wendet den Blick vom mittlerweile bleigrauen Meer ab.
„Genauso wie im Straßenverkehr können auf See auch Unfälle passieren.“
„Ist dir schon mal so ein Unfall passiert?“
„Nur kleinere Pannen. SOS funken musste ich noch nie. Mommi hätte mich sicher nie wieder segeln gehen lassen aus Angst, mich genauso zu verlieren wie sie Popp verloren hat.“
„Wer ist denn Popp?“
„Mein Opa. Er ist beim Segeln gestorben.“
„Ach“, macht er, als würde ihm etwas klar. „Das ist bestimmt der Willem van Hoorn, wegen dem du auch Willem heißt?“
Gibt es Dinge, die er nicht über mich weiß? „Nein, Gerrit hat mich nach seinem Opa benannt, der hieß auch Willem. Ich kenne ihn nicht, weil er gestorben ist, als ich ungefähr zwei war, aber das macht nichts, weil Popp ja genauso hieß.“
„Dann ist es aber komisch, dass dein Vater so einen Unterschied darum gemacht hat.“
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