28. Juni 2015

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Doch ich habe wohl eine Kleinigkeit vergessen seit gestern Abend: Ich habe nicht alleine auf der Etage geschlafen. Als ich zurück ins Zimmer komme, um mich anzuziehen, trifft mich ein Kissen im Gesicht und jemand brüllt, zwar in sehr fremdartigem Englisch, aber unmissverständlich, dass ich gewisse Dinge mit meinem Knie anstellen soll, aber gefälligst leise, sonst habe ich das letzte Mal gesungen.
Ähäm! Der ist aber gar nicht mehr so heiter drauf wie gestern Abend! Ich raffe meine Sachen zusammen und verlasse wesentlich leiser das Zimmer, um mich im Bad anzuziehen.
Tante O ist schon in der Küche. Kaum dass ich die Tür geöffnet habe, singt sie mir ‚Hoch soll er leben’ und gibt mir ein hübsch eingepacktes Päckchen. Außerdem warten auf dem prachtvoll gedeckten Frühstückstisch ein Blumenstrauß und ein Schokoladenkuchen mit neun Kerzen auf mich.
„Oh“, mache ich perplex, „das ist aber eine Überraschung!“
„Das sollte auch eine werden“, lacht sie. „Zum Glück hast du dir etwas Zeit gelassen im Bad, sonst wärst du mitten in meine Vorbereitungen geplatzt.“
„Woher weißt du, dass ich heute Geburtstag habe?“, will ich wissen und lasse mich am Tisch nieder. Ich packe das Geschenk aus und halte ein Buch in den Händen, das „Geschichte und Geschichten von Dersummeroog“ heißt.
„Als du das erste Mal gekommen bist, habe ich dich ein Formular ausfüllen lassen. So mache ich es bei allen meinen Gästen. Zu Anfang will man ja wissen, mit wem man es zu tun hat. Wenn es angenehme Gäste sind, merke ich mir nur das Geburtsdatum und der Rest von der Liste verstaubt im Ordner. Ich möchte doch, dass sich meine Gäste wohlfühlen, und solche kleinen Aufmerksamkeiten gehören für mich dazu.“
„Vielen Dank jedenfalls. Damit habe ich echt nicht gerechnet.“
Auf dem Kuchen sind mit Zuckerguss die Zahlen 2 und 7 aufgemalt und in die Zwei sind zwei Kerzen eingepiekt, in die Sieben natürlich sieben Stück. Das ist eine geschickte Art, mit wenigen Kerzen eine große Jahreszahl aufzustellen. Ich schaffe es, alle auf einmal auszupusten (bei siebenundzwanzig Stück wäre das schwieriger geworden) und schneide den Kuchen an.
„Sollten wir nicht auf Cornelius warten?“
„Ich glaub, das können wir uns sparen. Frühestens würde ich um zehn mit ihm rechnen.“ Jetzt ist es halb neun, das kann also noch ein Weilchen dauern. Gestern Abend vorm Einschlafen hat Cornelius mir erzählt, dass er zur Entschärfung der Zeitzonenunterschiede im Moment lieber ein bisschen länger schläft. Schuldbewusst denke ich an meine lauten Gesänge. Das war nicht besonders fair.

Beim Frühstücken teilen wir uns die niederländischen Seiten der „Eilanden-Nieuws“, der größten Zeitung der Insel (mit dem friesischen Teil kann ich nichts anfangen, den liest Tante O alleine). Dann will sie wissen, wie es eigentlich dazu gekommen ist, dass ich im fortgeschrittenen Alter von mittlerweile 27 Jahren noch einen Bruder bekommen habe, der auch schon nicht mehr ganz taufrisch ist.
Ich erkläre es ihr und genieße derweil die Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht, die den Weg in die Küche gefunden haben. (39) Während ich mein Ei schlürfe, denn es geht nichts über ein Drei-Minuten-Ei an einem schönen Morgen auf einer mindestens ebenso schönen Insel, fragt Tante O: „Aber wieso wusste er, dass es dich gibt und du nicht? Da muss doch etwas schief gelaufen sein.“
„Ja, das denke ich auch“, sage ich. Es müsste mal Straußeneier zum Frühstück geben. Wo mehr Ei ist, gibt es auch mehr zu schlürfen. So ein halbflüssiges Straußenei stelle ich mir fast wie das Paradies vor. „Er hat es gewusst, Lucy hat es gewusst, und Gerrit hat es auch gewusst. Cornelius hat nämlich gesagt, dass er Fotos von mir hatte. Und die kann nur Gerrit geschickt haben, schließlich hatte nur er Lucys Adresse. Außerdem hat er Lucy in Kanada besucht, als ich noch ziemlich klein war. Ich weiß angeblich nichts davon, aber Mommi ist es mal rausgerutscht. Ich frage mich seit gestern, warum er mir nie was davon gesagt hat.“

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