28. Juni 2015

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Wir sind von Dersum aus auf geradem Wege quer durch Nieuwdersum bis an die Promenade von Dersum aan Zee gefahren, damit Cornelius schon mal einen Weg zum Strand kennt.
Der Sandstreifen ist so schmal, dass er auch im fahlen Licht des fast runden Vollmondes zu überblicken ist.
Ich habe den leisen Verdacht, dass ihm das warme Bier nicht gut bekommen ist. Er redet ziemlich viel, und davon ist das meiste Unsinn. Das passt nicht zu dem, was ich bisher von ihm gehört habe, da hat er sich nämlich noch große Mühe gegeben, seine coole Schweigsamkeit heraus hängen zu lassen.
Vorne an der Waterkant fragt Cornelius mich, ob man im Meer schwimmen kann.
„Na klar kann man“, antworte ich. „Kannst du schwimmen?“
„Na klar kann ich. Und du?“, herausfordernd hüpft er vor mir herum und wechselt schnell vom einen Bein aufs andere, wie ein Boxer, der den nächsten Schlag erwartet.
„Wenn nicht, wäre ich ja schön blöd, den Hafen zu verlassen.“
„Und, gehen wir ins Meer?“, er fängt schon an sich auszuziehen.
„Nein, jetzt kannst du nicht schwimmen gehen“, sage ich. „Es ist Ebbe, die kann einen weit aufs Meer raus ziehen.“ (38) Außerdem ist mir mein Bruder nicht geheuer. Ist er einfach albern oder hat er einen in der Krone? Oder sind es vielleicht Nebenwirkungen des Jetlags? Da halte ich ihn lieber an Land. „Das können wir morgen machen.“
„Gibt es nur nachts Ebbe?“, fragt er.
Da ich die Frage nicht verstehe, erklärt Cornelius mir: „Du hast gerade gesagt, dass jetzt Ebbe ist, und es ist Nacht, und morgen können wir schwimmen gehen, also nehme ich ja mal an, dass morgen keine Ebbe ist.“
Nun begreife ich erst, dass er von den Gezeiten gar keine Ahnung hat. Anscheinend bin ich davon ausgegangen, dass er soviel weiß wie ich, weil wir verwandt sind. Aber damit fängt der Denkfehler schon an, denn wir sind in völlig unterschiedlichen Lebensräumen aufgewachsen. Bis vor einigen Tagen hat er auf dem Festland gelebt, meilenweit von jeglichem schiffbaren Gewässer entfernt, und wie er mir während der Radfahrt erklärt hat, auch noch im Gebirge. Mein bisher am weitesten vom Meer entfernter Wohnort war Alkmaar. Von da aus sind es rund 12 Kilometer bis Egmond aan Zee. Ich frage mich zwar, wie man in Erdkunde an diesem Thema vorbei kommen kann, zugleich weiß ich, dass man bei für einen selbst unwichtigen Sachen gerne mal nicht so genau zuhört oder den Kram kurz darauf vergisst.
„He, hat’s dir die Sprache verschlagen, oder war die Frage zu schwierig?“, flachst Cornelius und boxt mir auf den Oberarm.
„So einfach, wie du es dir vorstellst, ist das wirklich nicht. Am besten kann ich das mit einer Zeichnung erklären. Aber morgen. Ich bin nämlich müde.“ Weit entfernt von jedem größeren Zusammenhang (wenn ich müde bin, brauche ich keine Zusammenhänge mehr) fällt mir ein, dass wir immerhin froh sein können, dass mein neuer Bruder Radfahren kann. Sonst stünden wir wirklich ziemlich dumm da. Ohne Fahrräder geht fast gar nichts auf der Insel.


einundzwanzigstes Kapitel

Irgend etwas hat Dersummeroog an sich, vielleicht liegt es an der guten Luft oder an den Geräuschen, jedenfalls wache ich dort immer viel früher auf als zuhause, und das ohne Wecker! In der Dusche fange ich bereits an zu pfeifen, wenig später singe ich, was die Lunge hergibt. Hurra, dies ist ein wunderschöner Tag, außerdem habe ich Geburtstag, ab heute bin ich siebenundzwanzig! Mein diesjähriges Geburtstagsständchen muss ich mir allerdings in Ermangelung anderer Sänger selbst halten, aber das bin ich selber schuld, ich hätte ja zuhause bleiben können. Da hätte Mommi mir was gesungen.

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