„Ich fand es unheimlich cool“, gibt er verlegen grinsend zu. Dann fragt er: „Ist das schlimm? Große Brüder werden ja nicht so gerne nachgemacht, das ist jedenfalls bei einem meiner Kumpels so. Der kassiert immer Schläge, wenn er seinem großen Bruder was nachgemacht hat, dabei ist der ein echt cooler Typ. Na ja, zumindest wenn man davon absieht, dass er ständig seine kleinen Brüder vermöbelt.“
Ich schichte meine Minimalfrisur um, als würde es helfen, die Gedanken unterhalb der Schädeldecke zu sortieren. „Ich hatte es noch nie, dass mir ein kleiner Bruder was nachgemacht hat. Ad und Bas würde so was ja nie im Leben einfallen, die finden mich doof und langweilig und anstrengend und so nette Sachen. Aber … ich hab die Haare ja jetzt ab … machst du das jetzt also auch nach?”
„Nee“, sagt Cornelius überzeugt. „Mittlerweile find ich lange Haare so cool, dass ich sie nicht mehr abschneiden werde. Warum hast du das denn gemacht?“
„Das erzähl ich dir später mal“, wehre ich ab. „Tante O wartet bestimmt schon unten auf uns und wenn wir hier noch lange Wurzeln schlagen, machen die Kneipen zu, bevor wir da sind.“
„Ach ja“, macht er nun, „was sind das für Leute, die du da so triffst? Alle älter als ich?“
„Gemischt. Ungefähr zwischen 14 und 34“, fasse ich der Einfachheit halber zusammen, was natürlich zugleich unter- als auch übertrieben ist.
„Und auch ein paar nette Weiber dabei?“
„Das ist wohl Geschmackssache, he? Übrigens sagt den Insulanern nach, sie seien gegenüber Festländern stets auf eine gewisse Distanz aus. Also mach dir nicht allzu große Hoffnungen. Ich hab eine ganze Weile gebraucht, um mit ihnen warm zu werden“, erkläre ich.
Natürlich liegt das zum Teil auch daran, dass es nicht leicht ist, mit mir warm zu werden, außer, man gibt sich als mein bislang unbekannter Bruder aus und bringt mich derart durcheinander, dass mir gar nichts anderes bleibt, als mich sofort mit jemandem anzuwärmen. Aber das ist ein ganz anderes Kapitel.
Tante O freut sich wie immer an meinem Appetit und versucht mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, meinen Bruder dazu zu überreden, auch so kräftig zu zulangen. Als er standhaft ablehnt, macht sie sich Sorgen und stellt Vermutungen an, es stehe das Verkehrte auf dem Tisch. Cornelius erklärt schließlich, dass er sich nicht wohl fühlt. In Ansätzen berichtet er, was ihm auf der Anreise passiert ist (vom Jetlag redet er erstaunlicherweise überhaupt nicht, also werde ich auch nichts dazu sagen), dass ich ihn danach so toll abgelenkt habe und wie gut die Tabletten trotz allem gewirkt haben.
Später leihen wir Ieuwkjes Fahrrad aus und fahren nach West, wobei wir kräftig vom Wind angeschoben werden. Mal sehen, was Cornelius zum Rückweg sagt. Wahrscheinlich kennt er das Phänomen „Gegenwind“ nicht. Ich werde ihn mal fragen müssen, wo Calgary eigentlich ist, ich kenne mich da überhaupt nicht aus. Ist es im Gebirge oder im Flachland? In der Schule fand ich Europa und vor allem die Anrainerstaaten der Nordsee immer interessanter als all die fernen Länder und fremden Erdteile.
zwanzigstes Kapitel
Die Kneipe „Meeuwenpoep“ ist in einem der alten Dersumer Friesenhäuser untergebracht. Die zeichnen sich generell durch prächtige Reetdächer und im Innern nicht minder prächtige Räume aus. Die Wände sind zum Beispiel mit Delfter Fliesen, kostbaren Walzahn- und Bernsteinschnitzereien und Mahagonitäfelung verziert.
Die Schnitzereien sind, sofern sie nicht im Laufe der Zeit abhanden gekommen sind, durch Glaskästen vor neugierigen Leuten und ihren Fingern geschützt.
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