28. Juni 2015

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„Fünftens, wir verbringen die Nacht in Kneipen und Discos, falls es hier so was gibt“, ergänzt mein kleiner Bruder, und ich glaube den ersten gravierenden Unterschied entdeckt zu haben. Was, wenn er nicht ohne Disco auskommt? Aber wenigstens hat sein Innenleben die Insel als Festland anerkannt und Ruhe gegeben. Er sieht wieder viel besser aus.
„Das gibt es. Ich bin allerdings nicht so ein Disco-Fan, deswegen wird es vielleicht nicht so unterhaltsam für dich.“ Zu Beginn einer Beziehung ist es meines Erachtens wichtig, mit offenen Karten zu spielen. Sonst geht jeder von anderen Voraussetzungen aus und die Missverständnisse nehmen gleich zu Anfang überhand. Es reicht, wenn sie das später tun.
Cornelius schließt sich meinem Offene-Karten-Kurs an und gibt einschränkend zu: „Na ja, lange würde ich es da sowieso nicht aushalten, schon gar nicht die ganze Nacht, das war ein bisschen überzogen. Ich hab ziemliche Kopfschmerzen.“
„Ach ja? Warum?“ Liegt es womöglich immer noch an der Seekrankheit? Bekanntlich war ich noch nie seekrank und kenne mich daher nicht mit den Nebenwirkungen aus. „Möchtest du eine Kopfschmerztablette?“, fällt mir ein. Die Bordapotheke ist zwar da, wo sie ihrem Namen nach hingehört und somit nicht in Reichweite, aber Tante O ist schließlich eine fürsorgliche Hauswirtin.
„Nee, lass mal. Das würde nicht viel helfen, es liegt am Jetlag. Ich hab die acht Stunden Abstand zwischen unserer Mounten Standart Time und eurer Zeitzone noch nicht aufgeholt. Pro Tag schaff ich ungefähr zwei Stunden, weil ich ja nicht viel zu tun habe. Wenn ich hier zu arbeiten hätte, würde ich länger brauchen“, schiebt er erklärend ein. „Und da ich erst gestern hier gelandet bin, hab ich also noch so drei Tage Zeitumstellung vor mir“, schließt er.
Das ist der Vorteil am Bootlag, denke ich. Da handelt es sich nur um räumliche Abstände. Das einzige Leiden, das der Bootlag mit sich bringt, ist mehr oder minder starkes Fernweh; Kopfschmerzen hatte ich noch nie. Ich schlage einen geschickten Bogen von dem Thema, bei dem ich nicht mitreden kann, zu dem, was ich heute Abend noch zu tun gedenke. „Nachher wollte ich übrigens ein paar Bekannte besuchen, die sich regelmäßig in einer Kneipe in Dersum treffen. Wenn du willst, komm mit. Aber ich muss dich vorwarnen. Du wirst wahrscheinlich ziemlich viel angeguckt werden, das sag’ ich dir gleich. Wie Tante O und ich zuhause geguckt haben, das war erst der Anfang.“ Mit Cornelius im Gefolge gehe ich wieder ins Bad und hinterlasse Zahnbürste und den Kram.
„Wieso werde ich wahrscheinlich viel angeguckt werden? So irre ähnlich sind wir uns nicht, finde ich. Vom Gesicht her vielleicht, aber ich hab ein kleines bisschen längere Haare als du“, untertreibt er unwesentlich.
„Ja, das stimmt, aber im Sommer hatte ich sie noch länger als du jetzt, und deswegen werden manche Leute nicht glauben, was sie sehen. Wer mich nämlich eine Weile nicht gesehen hat, kann dich schon für mich halten.“
„Ach so…“, macht Cornelius langsam und ihm ist anzusehen, dass ihm ein Licht aufgeht.
„Was, ach so?“
„Du hattest die Haare lang…“
„Ja, hatte ich“, mache ich etwas ungeduldig, „Aber wovon redest du?“
„Und wann warst du zuletzt bei deinen Eltern?“
Ich hebe die Schultern. „Das war vor der Strandfete, ungefähr … im Juli oder so … aber warum fragst du das alles?“
„Das heißt also, dass dein Pa nicht wusste, dass du jetzt kurzhaarig bist“, stellt er fest.
„Ja-ha! A-ber wo-von re-dest du?“, betone ich jede Silbe einzeln, damit er endlich zur Sache kommt.
„Wenn du in Zuyderkerk nicht gesagt hättest, dass du es bist, bei dem ich klingele, hätte ich dich nie erkannt, weil dein Pa unserer Ma nur Fotos mit langen Haaren geschickt hatte. Und als ich in Alkmaar war, hat er noch extra betont, dass du längere Haare hättest als ich, damit ich dich auch auf jeden Fall erkenne!“
Jetzt bin ich es, der langsam „Ach so“ sagt. Dabei fällt mir etwas ein: „Aber … also, ich meine … ähm, hast du etwa jetzt lange Haare, weil ich auf den Fotos welche hatte?“ (37)

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