28. Juni 2015

60

neunzehntes Kapitel

Als der große Abschlussdeich in Sicht kommt, weiß ich, dass mein neuer Bruder seit zehn Tagen 21 Jahre alt ist – also ist er genau wie ich ein Oktoberkind. (35)
Seine Mutter, also Lucy, hat gelegentlich davon erzählt, dass es in Europa einen Jungen gibt, nämlich mich, und dass wir verwandt sind. Weil sie und ihr Mann es besser gefunden haben, dass ihr Sohn erst erwachsen wird, hat Lucy nie den Kontakt hergestellt. Bevor sie nach langer Krankheit starb, hat sie ihm die Briefe gegeben, die Gerrit ihr im Laufe der Jahre geschrieben hat und dazu Fotos von meinem Vater und mir. Cornelius hat ihr versprechen müssen, dass er noch wartet. Er hat die Schule abgeschlossen und viel gejobbt und viel gespart, und nun ist er also hier.
Anscheinend haben alle außer mir (einschließlich Marjorie) gewusst, dass Lucy nicht alleine in Kanada wohnte. Das fuchst mich ziemlich; weniger, weil Cornelius dadurch mehr weiß als ich, sondern viel eher, weil sie etwas, das mich angeht, vor mir verheimlicht haben. Ich möchte mal wissen, mit welcher Begründung sie das getan haben! Bei der nächsten Gelegenheit werde ich ein paar ernste Wörtchen mit meinen Angehörigen zu bereden haben.
Während wir an der Schleuse warten, schicke ich Cornelius auf festen Boden, damit er sich die Füße vertritt und sein Magen auf andere Gedanken kommt.
Meine Bordapotheke ist für fast alle Eventualitäten gewappnet, aber eben nur fast. Natürlich finde ich nichts für den aktuellen Fall. Die Ausrede, warum jemand, der keine Probleme mit Seekrankheit hat, ein Mittel dagegen mit sich führen sollte, zieht nicht. Immerhin sind auch allerhand Mittel enthalten gegen die diversen Leiden, von denen Frauen monatlich heimge­sucht werden. Helena hat sie vergessen, aber ich werfe sie nicht weg; vielleicht helfen sie eines Tages jemandem.
Schließlich finde ich die Lösung. In der letzten Woche haben wir mit den „Großen“ (das sind die, die uns im kommenden Sommer verlassen, weil sie in die dritte Gruppe wechseln) im Turnraum übernachtet. Wer mit Kindern zu tun hat, weiß, dass immer etwas passieren kann. Ein Kind stößt sich den Kopf an, einem anderen ist vor Aufregung schlecht, das dritte hat Angst im Dunkeln und das vierte will heim zu Mama.
Meine Reisetasche hatte ich dort dabei, und deswegen befindet sich mein Vorrat an Zauber­medizin noch darin. Das sind kleine, weiße Tabletten, die rein gar nichts bewirken. Doch immer wieder kommen die verblüffendsten medizinischen Wunder zustande, solange meine kleinen Patienten nur daran glauben, dass diese eine Tablette das ultimative Mittel gegen Bauchweh ist oder was sie gerade plagt.
Und wenn etwas bei kleinen Kindern klappt, warum sollte es dann bei kleinen Brüdern nicht klappen? Ich nehme das nicht etikettierte Fläschchen aus dunkelbraunem Glas mit an Deck. Der Stau vor der Schleuse hat sich inzwischen aufgelöst, ich kann einfahren.

Wenn er nicht gerade mit den Tabletten beschäftigt ist oder wie er sie wieder los wird, erfahre ich in loser Reihenfolge, dass er zuhause Corn, Corny oder Nelly genannt wird oder auch Suilenroc, das ist sein Name rückwärts. Douglas, sein Vater, hat ihm zum Abschied am Flughafen gesagt, dass er mich gerne nach Hause mitbringen darf. Außerdem erzählt er von der ordentlich bis spießigen und daher todlangweiligen Wohnsiedlung am Rande von Calgary, und ich kriege den Eindruck, dass er, obwohl es ihm in Europa gut gefällt, Heimweh hat. Hier ist eben doch alles ganz anders.

Ziemlich bald danach sind wir am Ziel unserer heutigen Reise angelangt.
Durch das Wohnzimmerfenster, das im Gegensatz zur Küche nach vorne raus geht, kann ich Tante O vor dem Fernseher sitzen sehen; vermutlich schaut sie die Abendnachrichten an. Ich habe mir während der Überfahrt versucht auszumalen, wie sie auf meinen Bruder reagieren wird, schließlich sind wir uns recht ähnlich, und dass ich mir im Sommer das Haar abgeschnitten habe, hat sie mir nicht verziehen. Wird sie ihren Augen trauen?
Ich öffne die Wohnzimmertür und begrüße sie mit dem üblichen „Moin“, Cornelius tut es mir nach. Das musste ich ihm erst beibringen. Natürlich hat er mir nicht geglaubt, dass das hier ein richtig amtlicher Gruß ist. Er glaubt auch nicht, dass es die Abkürzung des friesischen „Moien Dag“ ist. Typisch Amerikaner, alles wollen sie besser wissen.

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