„Nicht im Ernst!“
So ist es immer. Ich werde immer jünger geschätzt. Mittlerweile ist es okay, aber als ich mit 22 zuletzt für 16 geschätzt wurde, war ich nicht begeistert. „Doch.“
Kopfschüttelnd betrachtet sie mich von der Seite. „Elf Jahre sind übrigens ein krasser Altersabstand zwischen dem ersten und dem zweiten Kind. Als wärst du ein Unfall gewesen. Vor allem weil die drei anderen recht nah beieinander sind.“
Wehr dich!, fordert eine Stimme in meinem Innern, aber mir fällt nichts ein. Nur Sätze, bei denen sie dann garantiert fragt, ob ich mich angegriffen fühle, weil es wohl genauso ist.
„Danach klingen übrigens auch die Namen. Die Kleinen fangen wie das ABC an und du passt da gar nicht rein.“
„Willst du zurück schwimmen?“, lenke ich schließlich ab.
„Schon gut, schon gut“, lacht sie und fragt gleich weiter: „Und wie sind die Brüder so?“
„Welche Brüder meinst du? Alle vier?“, erkundige ich mich spitzfindig.
„Die jüngeren drei.“
„Insgesamt sind es nette Jungs. Aber Ad und Bas sind in der Pubertät. Und Chris muss da gar nicht erst rein kommen, um ein zäher und wilder Rebell zu werden.“
Skeptisch schaut sie mich an. „Und das kann man schon mit fast acht Jahren sagen? Ist das nicht ein bisschen übertrieben?“
Na, das weiß ich besser! „Die Persönlichkeit eines Kindes entwickelt sich ab der Geburt, und ungefähr ab einem Jahr kannst du erste Charakterzüge festmachen. Das sag ich dir jetzt nicht, weil ich es hundertmal in Psychologie und Pädagogik durchgekaut habe, sondern weil ich es selbst miterlebt habe.“
„Und wie ist das Leben mit so einem schwierigen Kind?“
„Chris ist nicht schwierig“, stelle ich klar. Ich mag meinen kleinen Bruder. Und ich mag nicht, wenn jemand was gegen ihn sagt.
„Du hast damit angefangen, dass er zäh und wild ist.“
„Aber deswegen ist er nicht automatisch schwierig. Außerdem kennst du ihn doch gar nicht, wie kannst du behaupten, er wäre schwierig?“
Sie winkt ab. „Vergiss es. Erzähl mir was anderes.“
Keine Lust. Ich gucke aufs Wasser.
Zwischen uns und Dersummeroog ist mittlerweile ein ansehnlicher Streifen Nordsee entstanden. Es wäre jetzt eine gute Gelegenheit, etwas zu essen, dann können wir gleich wieder in Richtung Hafen fahren. Das mit dem Törn um die ganze Insel erspare ich mir angesichts ihrer ausgesprochen taktvollen Art.
Wenig später habe ich ein schnelles Mittagessen aus Nudeln und Tomatensoße zubereitet, wobei Cora mich keine Sekunde aus den Augen gelassen hat. Sie hat es nicht für möglich gehalten, dass ich kochen kann.
Um Nudeln mit roter Soße zu kredenzen bedarf es keiner großartigen Kochkünste; eher Organisationstalent, um das Ganze in der Enge der Kajüte mit ihrer nur einflammigen Kochstelle zu bewerkstelligen.
Gemeinsam verspeisen wir das Gericht und den Inhalt ihres Obstkorbs (ich esse mehr, denn ich bin schneller). Danach begeben wir uns auf den Heimweg.
Wir sind gerade im Hafen angekommen, als Ieuwkje auf dem Pier erscheint.
„Hoi Jeremy – was ist denn mit deiner tollen Frisur passiert?“
„Du nennst eine Glatze eine tolle Frisur?“, wundert Cora sich.
„Gestern hatte er noch eine.“
„Kennt ihr euch überhaupt schon?“, will ich ablenken.
„Ja, flüchtig. Du wohnst meistens in West in der Torenkade, stimmt's? Ich bin Ieuwkje.“
„Cora“, sagt Cora. „Ich hab dich auch schon mal gesehen. Wohnst du da in der Nähe?“
„Nein, aber ein Freund von mir – mein Freund, seit gestern Abend.“
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