5. Juni 2015

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„Ach was, Luftspiegelungen, ich glaub dir kein Wort! Nachher, wenn wir zurück sind, werde ich meinen Pensionswirt danach fragen. Der erzählt mir nicht so haarsträubenden Quatsch.“ Sie macht es sich wieder auf ihrer Matte gemütlich und ignoriert mich theatralisch.
Da wird ihr Wirt einiges zu erklären haben, nehme ich an und bedaure ihn ein bisschen. Ach, diese Festländer! (26)

Wenn man die gedachte Längsachse Dersummeroogs „überquert“ hat, schließt sich das Hooge Rif an, mehrere Sandbänke, die nur bei hoher Flut überschwemmt werden. Es kann ziemlich gefährlich werden, wenn man hinaus wandert und sich dann von der auflaufenden Flut überraschen lässt. Nasse Füße bekommt man auf jeden Fall in den Prielen, aber es sind auch schon oft Menschen ertrunken, weil sie die Länge ihres Spaziergangs falsch eingeschätzt haben. Hier draußen verliert man ganz schnell jedes Gespür für Entfernungen. Für die Kaap Hoorn hingegen ist es nicht gefährlich. Ihr Rumpf ist so flach, dass wir allenfalls auflaufen würden – was wir aber nicht tun.
Ein Stück westlich der Feriensiedlung Westerdorp aan Zee liegt die Duinenplaat, nahezu ein Gebirge aus verschieden hohen Dünen. Alle sind mit genügsamen Grassorten bewachsen, dahinter kann man das Dunkelgrün der ausgedehnten Waldgebiete erkennen, die vor allem den dünn besiedelten Westteil Dersummeroogs bedecken.


fünfzehntes Kapitel

Die Flut hat vor einer Stunde eingesetzt. Ich setze den Anker, hole die Segel ein und gehe in die Kajüte. Dort ziehe ich mich um und kehre in meiner (natürlich kariert gemusterten) Badeshorts zurück an Deck. „Kommst du mit schwimmen?“, lade ich Cora ein.
Sie schaut von ihrem Buch auf. „Hast du die Badehose in der Altkleidersammlung gefunden?“, lästert sie und äußert sich dann zu meiner Frage: „Lass mal, ich bleibe lieber hier. Ich komme bestimmt nicht zurück aufs Boot, wenn ich einmal da unten im Wasser bin. Ich bin nicht so gelenkig wie du.“
Erst nennt sie mich einen Spargel, was wohl gleichbedeutend ist mit unsportlich, auf einmal bin ich gelenkig – die Frau weiß auch nicht, was sie will. Ich springe kräftig ab und vergnüge mich im Wasser.

Die Flut trägt mich leider ziemlich in Richtung Land, sodass ich ein gutes Stück dagegen anzuschwimmen habe, um zurück zur Kaap Hoorn zu gelangen. Als ich mich wieder auf Deck hieve, ist mir trotz der Anstrengung kalt.
Cora hat tatsächlich die ganze Zeit in der Sonne gelegen. „Und was hast du jetzt vor?“, will sie wissen, als ich mich bibbernd und aus der Puste in mein Badehandtuch hülle.
„Abwarten. Essen. Nichtstun“, gebe ich ihr drei Möglichkeiten zur Auswahl. Ich werde alles tun, nur über die Reihenfolge bin ich mir noch nicht ganz im Klaren. Zusätzlich biete ich „Geschichten erzählen“ an.
„Kennst du schöne Geschichten?“, fragt sie skeptisch.
„Sicher. Ich hab jeden Tag mit Kindern zu tun, da werde ich doch ein paar Geschichten zustande bringen.“

Auf dem Vordeck breite ich eine sich selbst aufpustende Luftmatratze aus und warte ab, bis sie eine komfortable Dicke erreicht hat.
„Sonnencreme?“, bietet sie an.
„Igitt.“ Ich lasse mich nieder.
„Typisch Mann.“ Cora liegt eine Weile neben mir und guckt in den Himmel, dann sagt sie: „Du wolltest mir eine Geschichte erzählen, schon vergessen?“
Längst ist mir wieder warm. „Habe ich wirklich gesagt, dass ich dir eine Geschichte erzähle? Kann mich gar nicht dran erinnern. Viel eher habe ich wohl gesagt, dass wir uns Geschichten erzählen können.“
„Trotzdem könntest du anfangen. Zum Beispiel damit, ob du Geschwister hast und was deine Eltern machen oder was du treibst, wenn du nicht hier auf der Insel bist.“
„Meine Eltern wohnen mit meinen drei kleinen Brüdern Adrien, Bastiaan und Chris in Alkmaar“, vereinfache ich meine Herkunftsgeschichte geringfügig.
„Und wie alt sind die Brüder?“
„Ad ist sechzehn, Bas ist vierzehn und Chris wird acht.“
„Und der vierte?“
„Welcher vierte? Ich hab drei Brüder, hast du mir nicht zugehört?“
„Doch, aber ihr seid ja vier Brüder. Da frag ich, wie alt der vierte ist.“
„Fast siebenundzwanzig.“

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