zehntes Kapitel
Vormittags repariere ich mein Fahrrad und liege ansonsten, wie es sich für einen Urlauber gehört, faul herum und lasse mich von der Sonne bescheinen, die sich mittlerweile einen Weg durch die Wolken gebahnt hat.
Ich habe übrigens festgestellt, dass ich in der gestrigen Eile meine Bibel vergessen habe. Ich bin mir noch nicht schlüssig, wie ich das finden soll. Normalerweise ist es mir wichtig, die Bibel dabei zu haben, weil ich jederzeit Gelegenheit haben will darin zu lesen. Aber im Moment ist mein Kopf wie vernagelt, sobald ich sie aufblättere. Ich könnte Tante O fragen, ob sie mir eine leiht. Ich weiß nichts von ihrer Beziehung zu Gott, aber eine Bibel hat sie ganz sicher im Haus. Allerdings fühlt es sich in mir an, als hätte ich gar keine Lust zum Bibellesen. Das gab es noch nie und es macht mir ein bisschen Angst. Bibellesen ist doch das, was mich Dinge über Gott lernen lässt, das unsere Beziehung festigt – was wird passieren, wenn ich der Laune nachgebe und danach womöglich nie wieder Lust habe?
Mein Mittagessen findet an der Fischbude auf dem Dersumer Marktplatz statt, danach radele ich planlos durch die Gegend. Weil ich nicht mit all den Urlaubern am Strand sein will, fahre ich zur Wattenküste.
Auf dem Weg komme ich an dem Bauernhof vorbei, bei dem die Pension Frühstückseier und kuhfrische Milch bezieht. Im Garten steht eine ältere Frau zwischen dem Gemüse. Dann geht es zwischen Weiden mit Kühen entlang und der Reitschule von Seeryp, dem Nachbarort von Dersum. Weiter schlängelt sich der Weg durch ein Wäldchen und dahinter wohnt Ferdinand.
Sein Häuschen steht streng genommen auf Dersumer Gebiet, aber Ferdinand sagt, er sei ein Seerypse Jong. Damit ist die Zugehörigkeit seines Grundstückes geklärt: Es gehört zu Seeryp. Ich habe ihm mal vorgeschlagen, er solle seine eigene Republik ausrufen, „Freies Seeryp für freie Bürger“, aber davon war er nicht sehr begeistert. Man könne besser im Herzen frei sein, hat er gesagt, als den ganzen Verwaltungskram für die Selbstständigkeit auf sich zu nehmen und dann keine freie Minute mehr zu haben. Da hat er wohl Recht.
Der alte Mann sitzt neben der blau gestrichenen Haustür auf einer winzigen ebenfalls blauen Bank, auf der eng zusammen gerückt gerade für zwei dünne Leute Platz ist. Fast sieht das Teil, das links und rechts von blühenden Stockrosen und grünen Ranken eingerahmt wird, wie ein Stuhl für einen sehr dicken Menschen aus.
Er hat mich erkannt und winkt mir zu. Aber ich mag nicht anhalten und fahre weiter.
Ich finde eine Bank mit Blick aufs Watt und setze mich hin. Leider habe ich keine Ruhe und halte es nicht lange dort aus.
Auf dem Rückweg komme ich wieder an Ferdinands Häuschen vorbei, und jetzt ist kein Platz mehr auf seinem Bänkchen – Tante O sitzt neben ihm.
Weil mir beide winken, halte ich an.
„Wohin so eilig?“, will er wissen, und sie fragt: „Willst du mit uns Tee trinken?“
„Tee!“, schimpft Ferdinand los. „Ich hab das Teewasser vergessen! Langsam werde ich wirklich alt!“
„Du wirst nicht alt, sondern du bist es“, weist Tante O ihn freundlich hin. „Was ist los mit dem Teewasser?“
„Ach, mein Heißwassergerät lässt sich nicht mehr regulieren, das ist irgendwie kaputt, das olle Ding. Wenn das Wasser heiß ist, ist es kochend heiß, also zu heiß für Tee. Normalerweise lasse ich es dann ein paar Minuten stehen, aber du hast mich ganz durcheinander gebracht.“ Grimmig guckt er Tante O an, aber die lacht nur.
„Ich wusste gar nicht, dass meine Wirkung auf Männer noch so gut ist!“
Er murmelt etwas.
Ich lerne gerade völlig neue Seiten bei der alten Tante kennen, und bei ihrem Kumpan auch. Waren sie vielleicht früher mal ein Paar? Dabei fällt mir ein, dass sie ruhig weiter flirten bzw. frotzeln sollen, offenbar macht es ihnen beiden Spaß. „Wenn du mir deine Küche anvertraust, kann ich das ja auch übernehmen“, biete ich Ferdinand an.
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