4. Juni 2015

27

Ich leere die Bierflasche. Die Schokolade spare ich mir für morgen auf, denn sie ist nichts für Heißhunger. Dafür schmeckt sie zu gut!
„Ich wollte Ferdinand oder Henk einladen, aber als ich vom Spazieren gehen zurück kam, sah ich deine Sachen hier rumstehen, und da hab ich mir gedacht, dass die auch mal einen Abend ohne mich auskommen müssen.“
Tante O und ihre beiden Busenfreunde Ferdinand und Henk sind eine ganz besondere Angelegenheit. Während meiner ersten paar Besuche auf der Insel habe ich vor lauter Leuten, die ständig „hereinschauten“ und dann den ganzen Abend blieben, gar nicht kapiert, wer alles hier im Haus wohnt. In bemitleidendem Tonfall sage ich: „Die Ärmsten.“
„Ach, die. Die sollen sich nicht so anstellen“, findet Tante O und lacht mich verschmitzt an. „Kannst du eigentlich Schach spielen?“
Ich verneine, woraufhin sie sagt: „Dann wird es aber Zeit, dass du es lernst.“
Ich bezweifle zwar, dass ich nach dem reichlichen Essen und dem Bier noch besonders empfänglich für so intellektuell anspruchsvolle Inhalte bin, aber man kann sich ja mal von seinen Fähigkeiten überraschen lassen.


neuntes Kapitel

Am nächsten Morgen bin ich schon früh wach. Irgendwas treibt mich aus dem Bett und ins Bad. Nach dem Duschen stehe ich ein paar Minuten am Fenster und schaue hinaus. Es ist noch nicht richtig hell und ich werfe einen prüfenden Blick auf meine Armbanduhr. Tatsächlich ist es noch nicht einmal sechs.
Schon wieder überkommen mich Trauer und Wut. Helena hat mir die Uhr geschenkt, weil sie meine Unpünktlichkeit leid war. Erst im zweiten Anlauf hat sie es geschafft, die Zeit in mein Leben zu bringen, denn die erste Uhr, die sie mir geschenkt hat, ist schon nach drei Wochen kaputt gewesen. Sie ist nass geworden – ich gebe zu, ich habe nicht besonders aufgepasst. Dann hat sie sich richtig ins Zeug gelegt, um eine Uhr zu finden, die meinen Bedürfnissen entspricht und mir zudem so gut gefällt, dass ich mehr darauf Acht gebe.
Und das ziemlich teure Technikwunder aus der Schweiz, das ich seitdem mit mir herum­trage, hat wirklich alles, was man sich wünschen kann. Die analogen Anzeigen geben im Hellen wie im Dunkeln präzise Auskunft über Stunden, Minuten und Sekunden sowie das Datum, und ich kann Luftdruck und Temperatur messen, wenn ich will. Sie ist mit GPS überall auf der Welt zu orten, so kann ich Position und Geschwindigkeit bestimmen. Für die unerreichbaren Orte hat sie aber auch noch einen Kompass. Eine Photovoltaikzelle unter­stützt die Batterie.
Die ganze Mechanik sitzt in einem extrem stoßfesten Titangehäuse und ich könnte 30 Meter tief damit tauchen; sogar in Salzwasser. Außerdem ist das Glas kratzfest, und das Band aus verschleißarmer und atmungsaktiver Kunstfaser ist natürlich orange.
Der einzige Nachteil ist, dass sich Dreck unter der Uhr ansammelt (da ich sie ja bei Tag und Nacht und überall trage). Also muss ich sie hin und wieder abnehmen, um mich da­run­ter zu waschen. Es geschieht selten, sodass ich an diesem Streifen am rechten Hand­gelenk weiß wie Quark bin, weil mich dort nie ein Sonnenstrahl erreicht.
Einen Moment lang will ich die Uhr wegwerfen, weil sie mich mit jedem Blick an die erinnert, die sie ausgesucht hat. Aber die Uhr kann nichts dafür. Überdies ist das gute Stück viel zu praktisch, um es einer Beziehungstat zum Opfer fallen zu lassen. Ich versuche, es einfach nur noch als das zu sehen, was es ist: der ideale Begleiter für einen Segler.
In Gedanken vertieft gehe ich hinunter in die Küche, weil mir der Magen knurrt. Unten angekommen fällt mir auf, dass ich leider vergessen habe, etwas anzu­ziehen. Seit ich alleine wohne, tue ich das immer unterm Dach oder mindestens im zweiten Stock, mir guckt niemand in die Fenster. Irgendwann war sie da, die Angewohnheit, nach dem Duschen noch ein Weilchen unbekleidet durch die Bude zu laufen. Ich schlafe ja auch nackt.

Keine Kommentare: