Ihren Gedanken „Ach, die schönen Haare!“ kann ich ihr ohne große Mühe vom Gesicht ablesen, aber erfreulicherweise verkneift sie sich die bedauernde Bemerkung. Statt dessen schüttelt sie sachte den Kopf, lässt die Brille, wo sie ist und fragt: „Hast du schon etwas gegessen?“
Die Pension Kijkdoos bietet eigentlich nur Übernachtungen und Frühstück, aber für die „gern gesehenen Gäste des Hauses“ sind die Leistungen mit der Zeit ausgeweitet worden. Im Gegenzug beteilige mich am Haushalt, wo es nötig ist.
„Mittags zuletzt.“ Mein Magen bekräftigt die Antwort mit einem energischen Knurren, denn es war nicht viel.
„Das tut die gute Seeluft“, kommentiert Tante O. Ich habe keine Zeit, mich dazu zu äußern, denn jetzt fragt sie: „Was hättest du denn gerne? Warm oder kalt?“
„Käsebrote, bitte.“
„Tut gut und geht schnell“, zitiert sie mich lächelnd. „Setz dich schon hin.“
Ich lasse mich hinterm Küchentisch auf der mit Polstern ausgelegten Eckbank nieder und sehe ihr zu, wie sie eins ihrer braunen Abendservices (12), Brot, Butter und diverse Käsestücke holt und vor mir aufbaut.
Sie ist damit etwas eigen. Bei einem früheren Besuch habe ich ihr angeboten, ich könne das doch machen – ganz im Gegensatz zu Helena, der das gar nicht aufgefallen ist und auch nichts Unhöfliches dabei fand, sich bedienen zu lassen von einem Menschen, der schon in Rente ist. Tante O hat eine ellenlange Debatte angefangen, erstens, dass sie weder zu alt noch zu schwach sei, um ein paar Handgriffe im Haushalt zu tun, und zweitens, dass ihre Gäste sich wie Gäste benehmen sollen. Also lasse ich mich bewirten und sitze faul rum, solange es ihr nur Freude bereitet.
Sie ist noch nicht ganz fertig mit dem Aufbau, als ich das erste Käsebrot schon verputzt habe und noch kauend das zweite schmiere. Nachdem sie mir eine Flasche Bier hingestellt hat, setzt sie sich neben mich.
„Du bist ja völlig ausgehungert“, stellt sie fest.
Ich nicke bloß.
„Du hast wohl in den vergangenen Tagen nicht viel gegessen, was?“
Ich nicke wieder.
„Es ist gut, dass du hergekommen bist. Das kleine Zimmer vorne raus ist noch bis zum achtundzwanzigsten frei, das kannst du haben. Oder wirst du länger bleiben?“
Ich schüttele den Kopf.
„Gut. Dann kannst du deine Sachen gleich nach oben bringen. Ich lege dir Wäsche raus.“ Tante O verschwindet für ein paar Minuten, und als sie wiederkommt, hat sie eine Tafel meiner Lieblingsschokolade dabei: Zartbitter mit Walnussstückchen drin. Weiß der Himmel, wie sie sich bloß all die kleinen Details über ihre Leute merkt.
Als die größte Not gebannt ist, will ich von ihr wissen: „Wo ist denn Ieuwkje?“
„Arbeiten. Im Neptun ist zum kalendarischen Ende der Hochsaison Schifferball. Das wird noch eine Weile dauern.“
Das Hotel Neptun ist Dersummeroogs zweitgrößtes Hotel mit Sitz in Westerdorp. Es gehört einem steinreichen Ausländer, der damals bei Übernahme nicht nur eine Menge Arbeitsplätze auf der Insel bewahrt, sondern auch noch frischen Wind mitgebracht hat.
Ieuwkje hat im sogenannten Ersten Haus am Platz, dem „Hotel Koningin Emma“, ihre Lehre zur Hotelfachfrau gemacht. Als der neue Besitzer seinen Angestellten sein Betriebskonzept vorgestellt hat, ist es zu einer Reihe von personellen Wechseln zwischen den beiden Häusern gekommen. Diejenigen, denen seine Umorganisation zu progressiv war, haben gekündigt oder sind zum „Kon. Emma“ (13) nach Dersum gegangen. Leuten wie Ieuwkje ist das gerade recht gewesen, denn die Leitung des größten Hotels ist recht traditionsbewusst.
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