4. Juni 2015

25

Ich störe mich nicht an den Blicken der anderen Leute, die auf dem Strand unterwegs sind, schmeiße alle Klamotten von mir und mich selber in die sommerlich temperierte Nordsee. Schwimmend und tauchend habe ich sehr bald die Welt um mich herum vergessen, und die Zeit sowieso.
Erst als mir ziemlich kalt geworden ist (so besonders warm ist die Nordsee nämlich nicht, sonst würde sie Südsee heißen) und ich außerdem genug habe von meinen Wasserspäßen, fällt mir ein, dass mich eine reichhaltige Mahlzeit erwartet, wenn ich mich endlich dazu überreden kann, zu meinem momentanen Wohnort zu gehen.
Ja, ich habe Hunger! Zum ersten Mal seit neun Tagen führt die Aussicht auf etwas Essbares nicht dazu, dass mir der Appetit vergeht und mein Magen sich verschließt und ich das Zeug in mich hinein zwingen muss.
Das schlimmste habe ich hinter mir.

Ich lasse dem Wind nicht die Zeit, das Salz auf meiner Haut zu trocknen, ziehe mich an und laufe zurück in die Dünen, damit mir wieder warm wird.
Am Fahrrad angekommen will ich die Schuhe eigentlich wieder anziehen, aber dann überlege ich es mir anders. Ich klemme sie unterm Gepäckträger fest und radele barfuß. Dabei bemerke ich den ersten Nutzen meiner neuen Frisur: Sie ist schon fast trocken. Mit langem Haar hat das immer eine halbe Ewigkeit gedauert, und außerdem fühlte es sich eklig an mit dem ganzen Salz darin.
Mittlerweile ist auch das letzte Restchen Tageslicht vom Himmel verschwunden, daher brauche ich mehr als die sonst üblichen zehn Minuten, bis ich wieder an der Pension ange­kommen bin. Ich habe den Weg durch den Garten genommen und sehe daher, dass in der Küche zwar Licht brennt, aber niemand drinnen sitzt. Ich klinke die Tür auf und schlüpfe herein. Der einladende Duft nach frisch gebackenem Kuchen, Tee und diversen anderen Leckereien umfängt mich.
Ich kann fast nur noch an Essen denken. Von nebenan höre ich die Stimme des Nachrichtensprechers aus dem Fernseher; ich sehe zur Küchenuhr. Ganze zwei Stunden sind seit meiner Ankunft auf der Insel vergangen, jetzt ist es zehn Uhr.
Im Flur hängen einige Jacken an der Garderobe. Ich stelle meine Schuhe auf die Treppe und stelle fest, dass mir unterwegs ein Socken abhanden gekommen ist. Pech für ihn.
Die zweite Tür zur Rechten führt ins Wohnzimmer; vielleicht finde ich Tante O dort. Sie könnte allerdings auch drüben im Anbau in ihrem eigenen Wohnzimmer sitzen. Der wurde vor ungefähr dreißig Jahren und nur für Gästezimmer gebaut. Jetzt wohnen Tante O und Ieuwkje darin und lassen es sich endlich ein bisschen besser gehen als früher, wo jede nur eine Kammer unterm Dach hatte. Da war alles in der „Pension Kijkdoos“ auf den Gästebetrieb ausgerichtet.
Ich mache die Tür auf und schaue hinein. Drinnen sitzen drei ältere Damen. Zwei von ihnen kenne ich nicht. Die eine strickt und die andere hat sich mit ihrem Stickrahmen am Tisch ausgebreitet. Sie hören zu, was sich in der Welt ereignet hat, bloß die dritte schaut nur in den Apparat. Das ist Tante O. Sie macht sich nichts aus Handarbeiten.
„Moin zusammen“, sage ich.
Tante O steht auf. „Da bist du ja endlich“, sagt sie anstelle einer Begrüßung und drückt mich feste. Ich erwidere die Umarmung und fühle mich jetzt wirklich wie zuhause. Früher, als Helena noch mitgefahren ist, sind die Begrüßungen nie so herzlich ausgefallen.
Gemeinsam gehen wir in die Küche, damit die beiden anderen weiter Nachrichten hören können. Tante O schnuppert an mir und lächelt. „Natürlich warst du schon schwimmen. Wie schön, dass du hier bist.“ Sie schaut an mir hoch (ich bin 1,86 groß, daneben sieht sie sehr klein aus mit ihren ungefähr 1,50 m) und sucht plötzlich nach ihrer Brille. „Warst du beim Frisör?“, fragt sie.
„Nee“, gestehe ich grinsend, „Küchenschere. Im Suff.“

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