4. Juni 2015

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Der Besucherrückgang hat damit zu tun, dass die Arbeit Tante O (die mit Nachnamen Sierksma heißt) gesundheitlich stark belastet hat. Gemeinsam mit Ieuwkjes Hilfe schafft sie es, ihr Lebenswerk in reduzierter Form weiter aufrecht zu erhalten, denn eine Einstellung des Pensionsbetriebes kann sie sich nicht leisten. Dafür ist ihre Rente zu klein.
Mein Fahrer nickt, als habe er sich so etwas in der Richtung schon gedacht und erzählt dann munter irgendwelche Sachen, bis wir im Hauptort der Insel angekommen sind und ich ihm sage, er könne mich an der nächsten Bushaltestelle herauslassen.
Als ich auf dem Backsteinpflaster vor der im Vergleich zu den umstehenden Häusern völlig überdimensioniert wirkenden Kirche stehe, atme ich tief durch und fühle mich wohl.
Dersummeroog hat mich wieder.

Ich bringe meine Sachen (bis auf das Fahrrad, das muss draußen warten) in die Küche, schreibe auf einen Zettel, dass es meine sind und befestige ihn mit einem Magnetclip neben anderen Notizen am Kühlschrank.
Ich habe mir zwar eingeredet, Stress und Hektik in Zuyderkerk gelassen zu haben, aber nun zieht es mich doch ganz schön zum Strand. Auf der Terrasse unterm Schutzdach der Garage steht Ieuwkjes Zweitfahrrad, das ich mir kurzerhand ausleihe. Zu Fuß ist es ja recht weit bis zum Strand, wenn man es so eilig hat wie ich jetzt.
Ich verlasse das Grundstück durch die schmale Gartenpforte an der Rückseite. Hier befindet sich ein Trampelpfad, der geradewegs in die Dünen führt. Zuerst ist er noch zu schmal zum Radeln, doch später wird sich das ändern.
Die kräftig orangefarbenen Beeren des Sanddorns sind reif und leuchten derart verlockend überall aus dem Gebüsch, dass sich mir sofort Pfützen auf der Zunge bilden. Ich pflücke mir im Vorbeischieben eine gute Handvoll ab und zerkaue sie. Die Beeren sind prall gefüllt mit Vitamin C und so sauer, dass sich einem alles zusammen zieht.
Mein Trampelpfad windet sich durch verfilztes Buschwerk, schiefgewehte Kiefern und Birken und an verwachsenen Sumpflöchern vorbei. Dann wandelt sich die Vegetation. Die Bäume bleiben hinter mir, Büsche stehen nur noch in den windgeschützten Senken zwischen den einzelnen Dünen, die überwiegend mit dem harten und genügsamen Strandhafer und anderen Gräsern bewachsen sind.
In der Abenddämmerung sehe ich einen Fasan, der mich aber eher entdeckt hat und schon auf der Flucht ist.
Vor mir erhebt sich eine große Düne, welche zu den höchsten natürlichen Erhebungen der Insel gehört. Die oben eingerichtete Aussichtsplattform besteht hauptsächlich aus dem Dach eines alten Bunkers, den im 2. Weltkrieg die Deutschen oder was weiß ich wer gebaut hat. Von dort hat man einen fantastischen Blick über die Insel und das Watt, und bei klarem Wetter reicht die Sicht bis zum Festland herüber. Ich will jedoch nicht in die Ferne sehen, ich bin froh, dass ich hier bin. Außerdem ist es schon zu dunkel. Ich umrunde die Aussichts­düne halb und gelange auf einen mit Holzplanken befestigten und gut einen Meter breiten Weg. Ich gebe keine Blicke mehr nach links oder rechts. Mein ganzes Streben ist nach vorne ausgerichtet. Könnt’ ich doch fliegen, dann wär’ ich schneller da!
Für unsere Verhältnisse geht es ziemlich steil bergauf, aber die Randdünen kommen erst noch. Dort befinden sich allerdings vom immerwährenden Flugsand glattgeschmirgelte Treppenstufen, die den Aufstieg erleichtern und zugleich dafür sorgen, dass die Dünen nicht nieder getreten werden.
Ich schließe das Fahrrad ab, erklimme den letzten steilen Dünenkamm und blicke so atemlos wie überwältigt auf den beinahe unendlichen Strand, der im schwindenden Tages­licht da liegt. Die Brandung ist nur ein weit entferntes Rauschen, das der Wind an mein Ohr trägt.
Ich kann das Panorama so oft sehen wie ich will, immer wieder bin ich begeistert. Ich betrinke mich an der reinen, salzhaltigen Luft und renne die Treppen zum Strand herunter. Es macht mir nichts aus, dass ich schon nach den ersten Schritten im tiefen, trockenen Sand die Schuhe voll davon habe.
Es ist herzzerreißend schön, und ich bilde mir ein, alleine auf der Welt zu sein.
Ich – und die See, der Strand, die Dünen. Mehr braucht’s nicht, um mich glücklich zu machen. Ich bin viel zu lange nicht hier gewesen.
Aber das sage ich mir bei jedem Besuch.

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