4. Juni 2015

22

„Ich möchte, dass du unser Bettelopfer annimmst und dich eine Woche lang nicht hier blicken lässt. Ich schätze dich sehr als Kollegen, aber was du mir in den letzten Tagen geboten hast, ist eine Schande. So kann ich nicht mit dir zusammenarbeiten.“

Als ich zuhause bin, fällt mir ein, was Ieuwkje von Tante O ausgerichtet hat: Ich solle mich durch die Trennung nicht vom Inseln abhalten lassen. „Inseln“ ist in diesem Fall ein Verb und umschließt alles, was man auf einer Insel wie Dersummeroog machen kann, vom Strandspaziergang bis zum Genießen von Grog oder Pharisäer an kalten Tagen – oder hundert anderen friesischen Spezialitäten bei egal welchem Wetter – in einer von Touristen weitgehend unbeachteten Kneipe. Angeblich soll diese Wortkonstruktion von mir stammen; ich kann mich nicht daran erinnern. Dennoch ist sie eine Art Jokerwort geworden. Einer sagt was übers Inseln und die anderen wissen, was gemeint ist.
Wie ich so übers Inseln im Allgemeinen und Dersummeroog im Besonderen nachdenke, kriege ich plötzlich einen heftigen Schub Fernweh. Mit einem Mal habe ich es eilig. Ich raffe von meinen Sachen zusammen, was mir in die Finger gerät und in meine alte Reisetasche passt. Dann düse ich zu Mommi, um mich für die nächsten Tage abzumelden. Kurz vorm Visserdijk joggt mir Miloš über den Weg. Ich teile ihm mit, dass ich heute Abend nicht zur Bandprobe kommen werde und bitte ihn, das an Eelco weiterzugeben.
Mein Fahrrad kommt mit an Bord. Es ist eine uralte Möhre, Mommi hat es mir vermacht, als eine ihrer Freundinnen starb und niemand sonst eins brauchte. Das Fahrrad, das ich bis dahin hatte, war zwar neuer, hatte aber weniger Qualität. Damit ich es besser wiederfinde zwischen all den anderen alten schwarzen Hollandrädern, habe ich es frühlingsgrün angestrichen. Ich befestige es mit ein paar Seilen an der Reling. Dann mache ich die Leinen los und steche in See.


achtes Kapitel

Das Wetter ist herrlich.
Ich atme die salzige Luft tief ein. Sie prickelt in meinen Lungen, ich fühle beinahe, wie die Blutkörperchen sie aufnehmen und in die kleinsten Zipfel meines Körpers transpor­tie­ren. Und je mehr von dieser salzhaltigen Frische durch mich pulst, desto besser geht es mir.
Das Lächeln, das mich in den letzten Tagen verlassen hatte, ist auf einmal wieder da. Es lockert meine angespannten Gesichtsmuskeln.
Eine kräftige Brise strafft das dunkelbraune Segel, kleine weiße Wölkchen stehen am blauen Himmel. Am östlichen Horizont sind dicke Wolken wie auf Gemälden von Jan Vermeer zu sehen, aber die stören mich nicht. Der Wind kommt stetig von West bis Südwest. Das ist genau mein Kurs, denn um das IJsselmeer verlassen zu können, muss ich nach Nordost segeln.
Und kaum, dass ich Zuyderkerks süße Silhouette hinter mir gelassen habe, geht mir auf, warum das Besser-Gehen genau jetzt angefangen hat. Das ist es doch, wovon alle Getrennten, Geschiedenen, Verlassenen immer reden: Sie brauchen Abstand! Warum bin ich bloß nicht eher auf diese Idee gekommen?
Der Abstand zwischen Helena und mir wird schnell größer.

Ein paar Seevögel machen sich den Fahrtwind der Kaap Hoorn zunutze, um ein Stück energiesparend übers IJsselmeer zu segeln. Sie fliegen mit nicht einmal drei Metern Abstand hinter mir her. Es sind sechs Heringsmöwen im braunweißen Jugendgefieder.
Sie sind perfekt auf ihre Umwelt eingerichtet. Die Körper stromlinienförmig, die Federn wasserabweisend und die Knochen so leicht, dass sie mühelos weite Strecken zurücklegen können – und dabei stabil genug, um auch harte Stürme und schwere See zu überstehen.
Und noch dazu sind sie nicht einfach so „irgendwie“ gestaltet, sondern jede Feder hat ihr eigenes Muster. Jede Möwe ist ein Unikat. Sie sehen hübsch aus mit ihren schwarzen Knopfaugen, sinniere ich, als sie auf ein geheimes Signal abdrehen und mit kraftvollem Flügelschlag im Sonnenschein verschwinden.

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