4. Juni 2015

14

Sie zögert, „Ich denke, dass allen Kindern klar ist, dass dir etwas schlimmes passiert ist. Je mehr du versuchst, ihnen Normalität vorzuspielen, desto unnormaler wird es für sie.“
„Aha“, murmele ich, weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll.
Vorsichtig formuliert sie: „Ich persönlich würde es besser finden, wenn du heute nicht mehr hier arbeitest.“
„Sagt das meine Kollegin oder meine Gruppenleiterin?“, erkundige ich mich nach dem aktuellen Stand der Personalunion.
Grietje schmunzelt. „Das sagt deine Kollegin. Die Gruppenleiterin hätte dich längst nach Hause geschickt.“ Weil ich nichts antworte, setzt sie hinzu: „Schlaf dich aus, dann geht’s dir auch wieder besser.“
Als ob schlafen helfen würde … aber weil ich echt müde bin, sage ich, dass das wahrscheinlich eine gute Idee ist und packe meine Sachen.
Kurz bevor ich weg bin, fällt mir noch was ein und ich strecke meinen Kopf in den Gruppenraum der Driehoeken, wo Grietje, Nebahat und die Kinder schon eifrig mit den Inseln beschäftigt sind.
Grietje nickt mir zu und kommt kurz darauf an die Tür. „Was kann ich für dich tun?“
Ich zeige ihr meine linke Hand. „Hast du ein Rezept gegen Ringe?“ Vor einem halben Jahr haben Helena und ich Verlobungsringe gekauft. Seit gestern Abend versuche ich, den Ring loszuwerden, aber anscheinend habe ich ausgerechnet an der linken Hand zugenommen. Er geht nicht mehr ab.
Sie nimmt meine langgliedrige und ziemlich knochige Hand in ihre beiden kleinen Hände und versucht vorsichtig, den Ring nur mithilfe etwas Drehens und ihrer guten Gedanken abzubekommen. Es geht nicht; in dem Fingergefängnis ist kein Platz mehr für gute Gedanken.
Wir gehen in unseren Aufenthaltsraum und sie holt Eiswürfel aus dem Frostfach im Kühlschrank. Sie füllt ein paar in einen Gefrierbeutel und faltet ihn zu. Mit der Anweisung, die kalte Tüte in der Linken zu halten, bis der Inhalt geschmolzen ist, gibt sie mir das Päckchen. Dann setzt sie Kaffee auf.
„Jetzt sind die Eiswürfel weg“, melde ich dann. Meine Finger sind kalt und fühlen sich ein bisschen taub an. Ich lasse das Wasser in die Spüle laufen und lege die Tüte daneben auf das Abtropfgitter.
„Gut“, sagt sie, holt die Spülmittelflasche aus dem Schrank unterm Waschbecken und drückt mir einen Tropfen auf den Ringfinger. Sie verteilt die Seife, dreht den schlichten Goldreif noch ein paar Mal hin und her, und – schwupps! ist er ab.
„Toll“, sage ich ehrlich beeindruckt. „Wie hast du das hingekriegt?“
„Das sind die Grundregeln der Physik, mein Lieber. Bei Kälte rücken die Moleküle in deiner Hand näher zusammen, bei Wärme brauchen sie mehr Platz“, erklärt sie. „Den Molekülen im Ring geht es zwar genauso, aber die in deiner Hand können sich schneller bewegen. So, und jetzt mach dich davon.“
Ich bin schon fast am überdachten Fahrradparkplatz, der sich neben dem Pausenhof befindet, als sie mir durch ein eilig aufgerissenes Fenster nachruft: „He, Jeremy, dein Ring!“
Ich winke ab, „Kannste behalten.“ Was soll ich mit einem Verlobungsring ohne Verlobung? Scheiße, wenn ich nur daran denke, wird mir ganz anders.
Wenn ich mich jetzt zuhause hinsetze und abwarte, bis es Zeit zum Schlafengehen ist, werde ich verrückt. Müde bin ich nämlich nicht mehr, nur noch unendlich fertig. Aber ich weiß, dass ich, sobald ich zur Ruhe komme, unweigerlich anfangen werde zu denken.
Ich will nicht denken; am liebsten an nichts.
Ich mache mich auf den Weg zum Anleger. Vielleicht finde ich da etwas Ablenkung.

Keine Kommentare: