Sie reichen nicht, wie Pieter behauptet, bis zum Arsch, doch wenn ich aufrecht stehe, bedecken sie meinen halben Rücken. Zehn Zentimeter zu kappen wäre lächerlich und keine große Veränderung. Das würde nur wie ein gründliches Spitzenschneiden aussehen. Schulterlang wird mein neuer Stil sein. Morgen gehe ich zum Frisör.
So lässt sich mit dem kleinsten Aufwand die größte Veränderung herstellen. Wenn Helena jetzt hier wäre, würde sie sich beschweren, dass ich mal wieder maßlos übertreibe. Aber sie ist nicht hier, und außerdem ist mir völlig schnurz, worüber sie sich beschweren will, denn radikale Einschnitte verlangen radikale Abschnitte.
Zuverlässig wie immer piepst der Wecker sich durch die tiefen wirren Schlafschichten bis zu meinem Bewusstsein vor und weckt mich aus meinem traumlosen Schlummer. Besser hätte ich nicht so viel getrunken, denke ich, als ich mich wankend auf den Weg ins Bad mache. Mal sehen, wie ich es schaffe, die stinkende Bierleiche in einen passablen Lehrer zu verwandeln, denn mehr als „passabel“ kriege ich heute bestimmt nicht hin.
Als ich das Bad betrete, schreie ich erschrocken auf. Ach du Scheiße, was ist denn hier passiert? Was ist mir eingefallen, meine Haare abzuschneiden? Entsetzt fasse ich mir an den Kopf, als sei das Bild, das sich mir bietet, nicht deutlich genug. Aber es stimmt wirklich, an meinem Kopf sind nur noch kurze Stoppeln und die traumhaft lange Naturwelle in der eigens dafür erfundenen Haarfarbe „gold-dunkel-honig-blond“ liegt auf den Fliesen.
Ich halte mich am Türrahmen fest und sinke zu Boden.
Meine lange Mähne gehört zu mir, ich kenne mich gar nicht mehr anders – von den restlichen Leuten meines Umfeldes mal ganz zu schweigen. Ich hab zuletzt als kleiner Junge kurze Haare gehabt. Mein Hals fühlt sich kalt an und meine Ohren frieren jetzt schon.
Ich halte es nicht mehr aus und fange an zu heulen. Das hier ist eine Nummer zu groß für mich.
Als ich mich ein bisschen beruhigt habe, überlege ich, wie es wäre, heute auch krank zu sein. Von meiner emotionalen Verfassung fühle ich mich viel kränker als gestern. Aber mit welcher Begründung soll ich mich von der Arbeit abmelden? Mir fällt kein auch nur ansatzweise brauchbarer Grund ein. Und wenn ich sage, dass ich einen Kater habe, werden mir meine Arbeitgeber was husten, schließlich ist nicht Wochenende und ich habe gewusst, dass heute ein Arbeitstag sein würde. Wenn ich mein gutes Verhältnis zu Schulleitung und Kollegen nicht aufs Spiel setzen will, sollte ich mich bald mal auf die Socken machen, emotionale Verfassung hin oder her.
viertes Kapitel
Es ist noch früh, als ich in der Burgemeester Negendank-Straat ankomme, aber ich bin nicht der erste in den drei unterschiedlich großen Flachdachgebäuden der Schule. Seit etwas mehr als drei Jahren ist sie „meine“ Schule: die nach den beiden Gründern benannte „Natalie Mol & Fjang Beltsnijder-Basisschool“.
Die MBB, wie sie gerne der Einfachheit halber abgekürzt wird, ist eine private Schule und wird von einem starken, überwiegend hier in Zuyderkerk ansässigen Elternverein getragen. Die Eltern haben eine Menge mitzureden, wenn es um Lehrinhalte, Pausenregelungen, die Termine der „kleinen“ Ferien im Frühjahr und Herbst oder Personalsachen geht. Es herrscht ein offenes und freundschaftliches Verhältnis zwischen den Mitgliedern des Trägervereins auf der einen und den Lehrern sowie den sonstigen Mitarbeitern der Schule auf der anderen Seite.
Zweimal im Jahr gibt es eine Zusammenkunft, die Konferenz genannt wird, aber mehr an ein großes Kaffeekränzchen erinnert, bei dem die anderen Angestellten der Schule über etwaige Neuerungen in Kenntnis gesetzt werden.
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