15. Juni 2016

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„Du hast mir geschworen, dass du mich nie verlässt!“, ruft er hinter mir her.
Wie gestochen fahre ich herum. „Nein, das habe ich nicht! Ich habe dir versprochen, bei dir zu sein, wenn du mich brauchst! Ich bin wochenlang für dich da gewesen und du hast mich nicht gebraucht, du hast mir sehr deutlich gezeigt, dass ich total überflüssig bin! Danke! Ich habs kapiert, ich gehe! Mach dein Leben ohne mich!“
Er hält mich am Arm fest, ich schlage die Hand weg und wende mich ab.
Jeremy! Halt an!
Ich widersetze mich der Anweisung des Höchsten und setze meinen Weg zur Bushaltestelle fort, auch wenn ich damit riskiere, dass ein großer Fisch mich verschluckt.
Mein lieber Freund, geh nicht!
Du redest immer von seinem freien Willen! Ich habe auch einen und ich gehe!
Ich bitte dich. Bleib bei ihm.
Warum sollte ich? Dann kann er mal sehen, wie das ist! Ich rede und rede und rede und es ist ihm alles scheißegal. Jetzt ist es mir scheißegal.
Eine Frau wartet schon. Der nächste Bus zum Bahnhof kommt in sechs Minuten.
Ist es dir nicht, mein Freund. Du bist verletzt, aber es ist dir nicht scheißegal.
Stimmt … Aber ich kann nicht mehr, ehrlich.
Meine Kraft ist?
In den Schwachen mächtig. Ich weiß, ich weiß …
Und wann hat dich der Höchste zuletzt um etwas gebeten?
„Das ist Erpressung!“, beschwere ich mich und die Frau guckt irritiert zu mir herüber.
Muss ich von dir gelernt haben.
Ich seufze tief.
Na lauf schon.
Wo finde ich ihn?
Im Zimmer des Kardiologen.

Auf einmal habe ich es eilig. Ich renne durch das Krankenhaus, vergesse anzuklopfen und reiße die Tür auf.
Hinterm Tisch der Arzt, vorm Tisch Angst, die ich bis hierhin riechen kann. Miloš springt auf, taumelt, stürzt, ich bin bei ihm, fange ihn auf und halte ihn fest. Ich spüre sein Zittern, es schüttelt ihn. Er klammert sich an mich wie ein Ertrinkender. Wieder und wieder streiche ich ihm über den Kopf. „Ich bin ja da. Hab keine Angst mehr. Es wird alles gut. Wir sind Blutsbrüder, ich geh nicht weg.“ Nebenbei stelle ich fest, dass wir allein im Zimmer sind.
Als das extreme Zittern nachlässt, frage ich: „Hast du denn schon unterschrieben?“
„Nein“, gibt er jämmerlich zu. „Es ging nicht, ich konnte den Stift nicht halten.“
„Willst du es jetzt noch mal versuchen?“
„Ja.“

„Jeremy“, fängt er an, als wir schon im Uniklinikum sind und die Vorbereitungen für die Operation laufen.
Auch wenn er sich ganz sicher losmachen wird, fasse ich seine Hand. Aber von wegen! Seine Finger schließen sich fest um meine. Kann es sein, dass ich ihn zehn Minuten verlassen hatte, und für ihn war es eine halbe Ewigkeit? Ich will ihm so etwas nicht wieder antun. Es ist so, wir gehören zusammen.
„Wenn alles gut geht, bin ich Dienstag wieder zuhause. Was, wenn nicht alles gut geht?“
Das ist die Frage, die ich mir nicht stellen will. Zum Glück bin ich ja ein Christenkind und habe eine gute Antwort parat: „Dann bist du immer noch in Gottes Hand.“(350) Ich male ihm mit trockenem Finger ein Kreuz auf die Stirn. „Ich segne dich mit Ruhe. Mit Frieden. Ich segne das OP-Team mit Weisheit, klarem Blick, wachem Verstand und ruhigen Händen, dass sie alles richtig machen. Ich segne dich mit Gesundheit. Du wirst schon sehen, es geht ganz schnell. Ich warte draußen. Und morgen komm ich direkt nach dem Gottesdienst und bringe dir Klamotten mit und die Zahnbürste und das ganze Zeug, das du so jeden Tag brauchst.“

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