3. Juni 2016

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„Nein. Er wird dadurch nicht schneller zum Arzt gehen. Aber ich muss mich nicht um ihn kümmern, wenn er ohnmächtig wird.“
„Ohnmächtig?!“
„Jep. Auf dem Hinweg ist er kurz vor Stuttgart das erste Mal fast ohnmächtig geworden und auf dem Heimweg ist er bei einer Pause aus dem Auto gestiegen und umgekippt. Er hatte natürlich eine gute Erklärung dafür. Wir waren oberhalb zweitausend Metern und er hatte vorher lange gesessen. Er hat für alles Erklärungen.“
„Und was sagt seine Familie?“
„Er hat einen krassen Streit angezettelt, weil Dijana wissen wollte, was los ist und er es nicht sagen wollte. Da fällt es mir ein, was ich dich fragen wollte: Hat er zugenommen? Dijana kocht sehr gut.“
„Ich habe noch nicht drauf geachtet. Ich schau mal. Und du, hast du zugenommen?“, lacht sie und tätschelt mich wieder.
„Weiß ich nicht, ich war lange nicht auf der Waage. Apropos Waage – was wiege ich?“
„Du könntest jedenfalls deutlich mehr wiegen, ohne an Herzverfettung zu sterben. So um die fünfundsiebzig Kilo?“
„Dann ist es ja gut. Als ich mich zuletzt gewogen hab, waren es zweiundsiebzig.“
„Wenn du das nächste Mal bei mir bist, darfst du gerne meine Waage benutzen. Sie steht unter dem Regal neben der Badewanne.“
„Und was wiegst du?“
„Zu viel. Was sagen seine Eltern zu seinem Gesundheitszustand?“
Das war aber mal ein eiliger Themenwechsel! „Würde mich wundern, wenn die überhaupt was davon wissen. Die Beziehung ist kompliziert genug, da bleibt keine Zeit für so detailliertes Nachfragen. Man könnte sich angreifbar machen. Ich glaub, er war zweimal da.“
„Wieso glaubst du das?“
„Ich frag ihn nicht mehr danach. Aber zweimal hatte er richtig schlechte Laune, als er von irgendwo zurück kam. Das ist ein recht gutes Anzeichen dafür, dass er bei den Eltern war.“
„Wenn ich das höre, bin ich immer froh über meine Familie. Wir sind zwar ein Haufen widerspenstiger Individualisten, aber wir können doch auf irgendeiner Ebene miteinander und wenn es drauf ankommt, kannst du dich voll auf die anderen verlassen. Dann ziehen sogar Mama und Papa wieder an einem Strang.“
„Wann haben sie sich eigentlich getrennt?“
„Vor acht Jahren, ich war achtundzwanzig. Das hatte sich schon länger abgezeichnet, aber ein Schock war es trotzdem. Für uns alle. Antolly hatten drei Monate vorher geheiratet. Das war nicht schön für sie. Man orientiert sich ja automatisch an den Eltern. Kann ich die Schwierigkeiten einer Ehe aushalten, wenn meine Eltern irgendwann vor Schwierigkeiten kapitulieren?“ Sie arbeitet ein paar Gedanken lang schweigend. „Deswegen hast du noch keine Beziehung eine Ehe werden lassen, he? Deine Eltern haben sich ja auch scheiden lassen.“
„Na ja, da war ich vier und habe nicht viel davon mitbekommen, weil ich schon bei Mommi und Popp wohnte und Gerrit und Lucy haben eh’ nie so richtig zusammen gelebt“, wehre ich mich gegen den Analyseversuch.
„Mein lieber Freund, du musst niemanden verteidigen“, sagt sie leise. „Hör jetzt mal auf zu reden. Entspann dich. Dein serbischer Wachhund wird die Treppe mit den Fäusten verteidigen, wenn das Slobientje es drauf ankommen lässt.“
„Zieht es unten wirklich?“, fällt mir ein.
„Nein.“

Halbwegs bin ich weggedöst, als ich unten Stimmen höre; serbisch wird geredet.
„Ganz ruhig“, sagt Merle und nimmt etwas heißes von meinem Rücken weg. Es scheint aus Einzelteilen zu bestehen, aber ich kann nicht sagen, was es ist. Sie streicht über meinen Kopf, den Nacken, die Schultern, fängt wieder am Kopf an, über den Nacken, den Rücken, immer abwechselnd, langsam und fest, es hat keine Ähnlichkeit mit Slobas Berührungen. Dann legt sie die heißen Einzelteile wieder hin, rollt eine Decke darüber, die auf meinen Beinen liegt und ich höre nicht, dass sie weg geht.
Präzise gesagt: Ich schlafe nicht schon vorher ein, sondern ich höre, dass sie nicht weg geht. Sie bleibt in meinem Zimmer.

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