29. November 2015

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„Wenn Theorie nicht hilft, muss man praktisch werden“, gibt Miloš eine unglaublich kluge Musikwissenschaftlerweisheit von sich. „Wir versuchen einfach mal, das Donnerdrum­mel-Rhythmuskorsett anders zu füllen.“
„Heißt das, wir werfen alles um und machen ab sofort ganz anderes Zeug? Ich brauch ja vielleicht nicht ganz so viel Vorbereitung wie ihr, weil ich mehr Bühnenerfahrung habe, aber ich find das … äh, riskant.“
„Davon kann keine Rede sein“, versuche ich sie zu beruhigen. „Es ist auch nicht schlimm, wenn du nicht dieselben Schlüsse ziehst wie Lisanne, denn es ist ja gar nicht dein Thema. Mach einfach so weiter wie immer.“
Misstrauisch guckt sie mich an, brummt dann etwas und holt sich Kaffee.


achtundsiebzigstes Kapitel

Meine Nerven sind reichlich strapaziert.
Die Bandproben häufen sich, weil wir so langsam alle zappelig werden, ob wir denn genug für das Almere open air geübt haben. Diese Woche sind auch noch die drei Arbeitstreffen in der Schule, die ja nächsten Montag wieder beginnt (zwei fanden gestern und heute statt, das dritte ist morgen; zum Glück dauern sie nur den Vormittag lang). Und mein neuer Mitbewohner geht mir im Moment mächtig auf den Geist.
Im Proberaum kreuzt er ständig auf und die Wohnung ist auch nicht mehr sicher vor ihm – wann soll ich mein Lied üben?
Das wird nämlich ein Solo. Ich kann den Freunden nicht erklären, was sie zu tun haben und mich selbst trommelnd begleiten. Selbst wenn sie sich Mühe geben, wird das nie so klingen, wie ich es mir vorstelle. Aber dieses Lied ist eine ganz intime Angelegenheit zwischen mir und Gott. Da kann ich keine Interpretationen gebrauchen.
Allerdings heißt das, dass ich entweder a capella zu singen habe – wovor mir graut – oder mich wieder mit meiner Gitarre anzufreunden habe. Das ist nicht einfacher umgesetzt.
Irgendwann vor sieben Jahren, ich war erst eine kurze Weile mit Helena zusammen, habe ich sie von einem auf den anderen Tag in die Ecke gestellt und danach nicht wieder angefasst, außer um sie woanders hinzustellen. Schließlich ist sie auf dem Dachboden gelandet.
Als Miloš zum Laufen ist, hole ich sie herunter, wische mit einem feuchten Lappen die Staubschicht von der dunkelgrünen Kunstlederhülle und packe sie aus.
Vom vielen Gebrauch im Freien ist sie fleckig, angeschlagen und zerkratzt. Damals, als man alles mit Aufklebern verzierte (123), hat sie natürlich auch welche bekommen, und seitdem kleben „Give Peace a chance“ und „Atoomenergie? – nee, bedankt“ darauf.
Ich klimpere über die Saiten; sie sind ausgeleiert und verstimmt, aber auf einmal spüre ich sie wieder: meine erste Liebe zur Musik. Ich stecke das Instrument zurück in die Hülle und fahre mit ihm in die Stadt, um einen Satz neue Saiten zu kaufen. Dann geht es weiter zum Visserdijk, wo ich an Bord gehe und ein Stück hinaus aufs IJsselmeer segele.
Beinahe zärtlich ziehe ich die neuen Saiten auf und stimme sorgfältig. Fast ist es wie damals, zu meinem zehnten Geburtstag, als ich sie das erste Mal in der Hand hielt. Mommi und Popp hatten sie mir geschenkt. Warum habe ich sie nur so viele Jahre nicht beachtet? Was war da los bei mir? Und was hatte das Ganze mit Helena zu tun – schließlich kam sie und die Gitarre war auf einmal unwichtig?
Ging es darum? Sollte ich zurück dahin gehen, wo ich vor Helena gewesen bin?, frage ich Gott, aber er schweigt sich aus.
Ich versuche das Lied, das ich ungefähr genauso lange nicht gesungen habe, zu reanimieren. Sicherheitshalber habe ich ein Heft mit Text und Akkorden mitgebracht, aber ich brauche es nicht. Ich weiß es noch auswendig. Sofort ist alles wieder da, auch das Gefühl, als ich das Lied das erste Mal hörte.

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